Guten
Morgen!
Eines
Morgens merkt sie: Etwas ist anders. Irgendetwas ist geschehen in dieser Nacht
oder in den frühen Morgenstunden. Eine schwere Last ist auf einmal wie
weggenommen. Dabei hatte sie sich fast schon daran gewöhnt, dass sie jeden
Morgen wieder da war, diese tiefe Bedrücktheit, diese schwere Trauer. „Mitten
aus dem Leben gerissen“, so stand es in der Traueranzeige für ihren Mann, der
plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben war. Mitten aus dem Leben gerissen,
aus ihrem Leben gerissen, ein Stück ihres eigenen Lebens mit fortgerissen, von
einem Moment auf den anderen. Der Schmerz hat lange sein Gewicht auf sie
gelegt. Tag für Tag, Monat für Monat. Aber jetzt ist plötzlich der Morgen
heraufgekommen. Und über Nacht ist er endlich gegangen, der tiefe, der große
Schmerz. Irgendwer hat den schweren Mantel der Traurigkeit von ihr genommen.
Sie kann es noch gar nicht richtig glauben. Langsam steht sie auf, stellt sich
auf ihre Beine. Und sie merkt, es ist leichter geworden, auf dem Boden zu
stehen. Den letzten Schlaf wäscht sie sich aus dem Gesicht, kämmt sich das
Haar, langsam und konzentriert. Sonderbar: Es ist, als ob sie mit jedem
Bürstenstrich letzte Reste von Schmerz herausstreicht. Vorsichtig und bedacht
beginnt sie mit den ersten Handgriffen des Tages. Seltsam, es scheint, als habe
ihr jemand ein großes Versprechen gegeben, als habe ihr jemand versprochen,
dass etwas Besonderes und Gutes in ihr Leben kommt, von dem sie noch kaum etwas
ahnt. Eine Art Vorfreude breitet sich in ihr aus. Und hätte sie jemand gefragt,
sie hätte gar nicht sagen können, worauf. Monatelang hatten Freunde, Bekannte,
Nachbarn auf sie eingeredet. Das Leben geht doch weiter, hatten sie gesagt. Nun
muss es aber auch mal ein Ende haben mit deiner Trauer. Denk doch mal wieder an
dich selbst. All das hatte nichts wegnehmen können von ihrer Last. „Alles hat
seine Zeit.“ (Die Bibel, Prediger 3,1) An diese alten biblischen Worte erinnert
sie sich jetzt. „Ein jegliches hat seine Stunde, weinen und lachen, klagen und
tanzen.“ (Die Bibel, Prediger 3,4) Ja, so erlebt sie es gerade. Den Abschied
von ihrem Mann – hat sie nicht selbst bestimmen können. Die Leichtigkeit dieses
Morgens – hat niemand herbeireden können.
Jetzt,
plötzlich, an diesem frühen Morgen, ist es geschehen. Ohne ihr Zutun, einfach
so. Der Schmerz hat von sich aus über Nacht seinen Abschied genommen. Und sie
hatte schon gedacht: Aus dieser Krise komme ich nie wieder heraus… Welch ein
Segen, kann sie nur immer wieder denken, welch ein Segen. Jede Trauer braucht
ihre eigene Zeit. Tatsächlich kann sich vieles über Nacht ändern, können
entscheidende Veränderungen in frühen Morgenstunden eintreten. Das hat sie
schon oft gehört. Das hohe Fieber ist runter, eine persönliche Entscheidung ist
endlich reif oder plötzlich ist da der Mut, einen neuen Weg einzuschlagen. Gott
erreicht viele Menschen scheinbar ganz besonders gut in den ersten
Morgenstunden. Denkt sie. Dann, wenn meine Willensanstrengung am tiefsten Punkt
ruht. Dann kann Gott besser berühren und stärken, was in mir heil und gut
werden will.
Und
das Herz wird leichter und öffnet sich für Wege, über die ich nur staunen kann.
Gleich will sie das ihrer Freundin erzählen. Sie wird sich mitfreuen.
Einen
guten Morgen und einen guten Tag wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Michael Opitz aus
Düsseldorf.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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