Guten
Morgen.
Wo
das Geheimnis der Welt zu finden ist? Das hat mir meine Großmutter gezeigt.
Sie
zieht die blassgrüne Schürze an, die mit den rosa und gelben Blumen drauf. Dunkelgrüne
Gummistiefel, hellgrünes Haarnetz, Spaten und Eimer in der einen Hand, ich an
der anderen. Meine kleinen Gummistiefel sind rot, und ich ziehe die kleine
Harke hinter mir her.
Meine
Omi und ich gehen in den Garten.
Omi
steckt den Spaten tief in die Erde vom Gemüsebeet. Ein Tritt und hoch den
Spaten. Und schon kommt der wunderbare Mutterboden zum Vorschein, mittendrin
ein großer langer Regenwurm. Er windet sich und taucht blitzschnell in der Erde
wieder unter. Wir haben Samentütchen dabei. Schnittlauch, Dill und Petersilie.
Omi
gräbt das Gemüsebeet um, zieht spitze Furchen in den Boden oder hebt kleine
Löcher aus. Da kommen die Samen rein und Knollen und Setzlinge. Wir säen und
pflanzen und hegen und pflegen und ernten das ganze Jahr. Und begegnen dabei
Vögeln und Käfern, Raupen und Schmetterlingen, Kröten und Fröschen, Bienen und
Hummeln und Mücken. Nichts ist zu klein, um nicht eine eigene Aufgabe zu haben.
Aus Kleinem wächst Großes. Ganz von selbst und noch besser mit unserer Hege und
Pflege. Nektar für die Bienen, Mücken für die Vögel. Pellkartoffeln mit
Kräutern, Salat und Möhren für uns. Dass selbst Brennnesseln schmecken können,
das habe ich erst viel später erfahren. Alle werden satt.
Ich
bin fasziniert von dem, was lebt und webt in dieser bunten Welt. Das Geheimnis
der Welt, es liegt immer noch ein Stück tiefer, in den allerkleinsten Lebewesen
und Samenkörnern. Manche kann ich mit dem Auge gar nicht wahrnehmen.
Geht
hin und bringt Frucht, trägt Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern auf (Johannes
5,16). Und Omis Garten ist dafür wie eine Lebensschule.
Daran
denke ich jetzt gern – mitten im Winter, zwischen den Jahren, wo ich darüber
nachdenke, wie ich das neue Jahr angehen will.
Ich
will Wurzeln schlagen. Da, wo ich gerade lebe. In meiner Stadt. An meiner
Arbeitsstelle. In meiner Nachbarschaft. Bei denen, die mir nahestehen. In
meinem Glauben. In meiner Kirche.
Ich
will wachsen und gedeihen! Das kann ich da, wo ich vertrauen kann. Da wo ich
Menschen mag und sie mich. Da wo man respektvoll und höflich miteinander
umgeht. Da wo ich gesunde Luft atmen kann. Da wo ich mich frei äußern kann ohne
Angst. Wo man singt und tanzt. Dann packt mich die Lebenslust! Ich brauche das
Zusammenarbeiten und -leben mit anderen, um aufzublühen.
Aus
der Raupe wird ein Schmetterling. Aus dem Samenkorn bunte Blüten oder eine
ganze Ähre. Aus zarten Wurzeln wird ein Stamm, an den sich andere anlehnen
können. Aus ganz Kleinem etwas Großes. Manchmal wird etwas aus kurzen
Begegnungen:
Da
kommt manchmal sehr viele Jahre später eine Nachricht: „Du, das hat mir damals
sehr geholfen! Danke!“
Omis Garten, eine Lebensschule.
Manches wächst von allein. Anderes braucht Hege und Pflege. Und alles stirbt
einmal. Ob Omi weiß, dass sie auch nach ihrem Tod noch so viel Lebensfrüchte
bringt? Ich streue in meinem Leben viele Samen aus – und Gott lässt sie
vielleicht irgendwo aufgehen. Von vielen werde ich niemals wissen. Es bleibt
ein Geheimnis. Aber ich kann sicher sein: Es gibt kein Leben, das nicht anderes
Leben zum Blühen bringt. Kein Leben ist zu klein, kein Leben ist vergeblich. Gute
Aussichten für das kommende Jahr, finde ich.
Einen zuversichtlichen
Blick auf das herannahende, neue Jahr wünscht Ihnen,
Petra Schulze,
Rundfunkpfarrerin in Düsseldorf.
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