Wachen und Beten

Kirche in WDR2 | 06.05.2022 | 00:00 Uhr

Die

Tagessschau läuft. Ich schaue viel Nachrichten in diesen Tagen. Viel mehr als

sonst. Viel mehr, als mir guttut. Ich sehe diese Straße. Irgendwo in der

Ukraine. Ich sehe, wie Menschen rennen. In panischer Furcht. Sie stolpern über

Geröll und Schutt hinweg auf einen Bus zu, der sie in Sicherheit bringen soll.

Immer geduckt, um kein Ziel zu bieten. Da ist ein kleiner Junge, vielleicht

fünf Jahre alt. Er kann nicht schnell rennen. Seine Beine sind zu kurz, um über

das Geröll zu klettern. Er bleibt zurück. Keiner achtet auf ihn. Alle rennen

voller Angst. Und er ist allein. Da kommt ein Soldat ins Bild, schnappt sich

den Kleinen, klemmt ihn sich unter den Arm wie ein Bündel alter Kleider und

trägt ihn weiter. Die kleinen Arme und Beine schlackern kraftlos. Schließlich

erreichen sie den Bus. Gerettet. Für den Moment. Das ist, was Krieg bedeutet.

Nichts Großes oder Heldenhaftes. Nur Leid, Angst und Zerstörung. Und es bricht

mir das Herz. Die Fragen in meinem Kopf drehen sich in Dauerschleife. Wie hört

das auf? Was kann ich tun? Kann ich überhaupt etwas tun? Ich kann schließlich

keine Granaten aufhalten, keine Panzer stoppen. Ich kann auch nicht zu

irgendeinem Machthaber gehen und ihn so lange schütteln, bis er zur Besinnung

kommt und das mit dem Krieg sein lässt. Ich würde gern. Aber ich kann nicht. Ihr

könnt etwas tun. Sagt Jesus. Wachet und betet. Sagt er. Wenn eure Kraft zu

klein ist. Die Macht der Mächtigen nicht ausreicht. Wenn das Gefühl der

Hilflosigkeit euch lähmen will. Dann könnt ihr: Wachen und Beten. Das klingt

nach Nichtstun und Zuschauen. Aber es ist das genaue Gegenteil. Es bedeutet:

Wachsam sein. Hinsehen. Damit das Unrecht nicht im Verborgenen geschieht. Damit

der Täter sich nicht im Dunkel der Lüge verstecken kann. Es bedeutet: Die

Menschen in ihrer Not wahrnehmen. Ihre Traurigkeit teilen. Mit aller Kraft nach

den kleinen Schritten Ausschau halten, die Not lindern, und die man auch als

normaler Mensch gehen kann. Es bedeutet auch: Aufpassen, dass man sich nicht

selber einfangen lässt von der Logik des Krieges, in der es plötzlich keine

Menschen mehr zu geben scheint, sondern nur noch Feinde und Verbündete. Wachsam

sein können wir. Und beten. Sorge und Hilflosigkeit in Gottes Hand legen. Damit

wir Trost finden. Und darin die Kraft, beharrlich zu bleiben. Zu helfen. Den

Frieden zu suchen. Und zu vergeben. Wenn es dafür an der Zeit ist.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 6.5.2022
  • Thomas Schrödter
  • © epd bild/Klaus Honigschnabel
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