Frau.Leben.Freiheit

Sonntagskirche | 04.06.2023 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Ein Handyvideo. Eine junge Frau von hinten. Sie nimmt das Kopftuch

ab. Ihre langen Haare fallen über ihre Schultern. Sie streckt die Hände in die

Höhe. Als würde sie tanzen geht sie über die Straßen. Zwischen den Autos

hindurch und an den bewaffneten Polizisten vorbei. Mit federndem Schritt. Mit

erhobenen Händen. Mit offenen Haaren. Mitten in Teheran. Mitten im Iran, einem

Land, in dem sie das das Leben kosten kann. Mit Schwung und mit Hoffnung. Und

einem Mut, der mir den Atem raubt. Sie verwandelt ihr Leben in diesem Moment.

Und das Leben von vielen anderen, die die Bilder sehen und es ihr gleichtun.

Revolutionär.

In der Bibel wird Jesus einmal gefragt: „Wann kommt das Reich Gottes?“ Und

er antwortet:

„Das

Reich Gottes ist mitten unter euch.“ (Die Bibel, Lukas 17,21)

Wenn ich das lese, dann denke ich an diese Frau mit den offenen

Haaren in Teheran.

Die

Revolution im Iran hat eine Hymne: „Baraye azadii – Für Freiheit“ heißt sie.

Sie stammt vom 26-jährigen Shervin Hajipour, der wenige Tage

nach der Veröffentlichung des Lieds vom Regime verhaftet wurde. Doch zu spät:

Das Lied war in der Welt. Unaufhaltsam. Es wird immer wieder neu im Internet hochgeladen,

gecovert und weitergeschrieben.

Und immer mehr machen mittlerweile die Geschehnisse

im Iran öffentlich sichtbar: die Verbrechen des Regimes; die immer wieder neuen

Giftgasanschläge auf Schülerinnen. Manche nennen die Namen der Verhafteten

immer wieder. Und sie protestieren weiterhin auf allen Ebenen öffentlich gegen

das Vorgehen des Regimes. Auch und gerade dann, wenn das Medieninteresse

langsam nachlässt. Für mich ist klar: Dieser Protest der Iranerinnen und Iraner

gegen das Unrecht in ihrem Land ist eine Chance, und er braucht Unterstützung –

meine hat er.

Und ich lese den Text des Liedes „Baraye

azadii – Für Freiheit“ noch einmal. Hajipour hat ihn aus Tweets über die

Proteste und Sehnsüchte von Iranern und Iranerinnen zusammengestellt:

Fürs Tanzen in den Straßen.

Für unsere Angst, erwischt zu werden,

wenn wir uns küssen.

Für meine Schwester, deine Schwester, unsere

Schwestern.

Für die Veränderung in diesen

verrosteten Köpfen.

Für die Sehnsucht nach einem normalen

Leben.

Für alle diese unaufhaltsamen Tränen.

Für die ermordeten Kinder, die uns

fehlen.

Für die Studierenden und ihre Zukunft.

Für all die klugen Menschen im

Gefängnis.

… Für Frau, Leben, Freiheit.

Und so viele werden verhaftet. Und gefoltert und ermordet. Immer

noch. Wann hört das auf? Wann kommt das Reich Gottes?

Jesus sagt: Das Reich Gottes ist

mitten unter euch.

Das Reich Gottes blitzt auf, wo sich jemand für Freiheit, Gerechtigkeit

und Leben einsetzt. Hell, leuchtend, unübersehbar.

Das Reich Gottes ist da, wo eine öffentlich ihr Haar zeigt und

tanzt. Wo einer in einem Lied schreibt, dass das das Undenkbare möglich ist. Wo

Protestierende „mit nichts in der Hand, ohne Waffe, ohne Schutz, ohne Helm“ (1)

losgehen – obwohl sie ihre Leben dabei verlieren können.

Wo Barrieren fallen und Menschen sich an den Händen nehmen und

miteinander für ihre Freiheit eintreten. Das Reich Gottes bist du, und das bin

ich. Das Reich Gottes ist der Mut der Freiheit und der Lebensfreude.

Das Reich Gottes ist mitten unter euch.

(1) https://www.dw.com/de/iran-shervin-hajipour-distanziert-sich-von-seinem-protestsong/a-63342401 (letzter Abruf 28.04.23)

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/61171_SK20230604Haseleu.mp3

  • 4.6.2023
  • Miriam Haseleu
  • © CCO Pixabay
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