Guten
Morgen.
Es
ist ein grau-nebliger Herbsttag. In Kanada, in der Stadt Ottawa stehe ich im
Museum vor einem bunten Glasfenster. Ein schönes Weihnachtsfenster, denke ich.
Ich sehe Maria und das Jesuskind. Und Joseph schlägt die Trommel, wie die
ersten Nationen Kanadas sie benutzen. Und hier, eine weiße Taube – sicher der
Heilige Geist. Und wie in vielen gläsernen Kirchenfenstern Europas sind Ranken
und Blumen zu sehen: Hier sind es wilde Erdbeeren und Blaubeeren. Doch dieses
Fenster ist kein Kirchenfenster. Und die Geschichte von Geburt, Leiden und Tod
darauf ist nicht die Geschichte vom kleinen Jesuskind. Oder doch?
Die
Künstlerin Christi Belcourt hat das Fenster 2008 geschaffen. Sie hat das Leben
der ersten Nationen Kanadas in all seiner Vielfalt darauf dargestellt. Dabei
auch das Unrecht, das ihnen von Christinnen und Christen zugefügt worden ist.
„Man sah uns als Wilde“, sagen die Frauen und Männer der ersten Nationen. Und
so errichteten christliche Kirchen Schulen für diese „wilden Kinder“. Man entriss
sie ihren Eltern und brachte sie in Heime und Schulen. Auch Zwangsadoptionen
waren an der Tagesordnung. Auf dem Glasbild sind die Kinder in grau
dargestellt. Sie stehen wie hölzerne Puppen in Reih und Glied mit traurigen
Gesichtern vor den schmucklosen Schulhäusern und Heimen. Diese Kinder sind in
christlichem Glauben aufgewachsen, fernab ihrer Familien. Bis heute leiden sei
schwer daran: entwurzelt, missbraucht, gequält. Viele sind psychisch und
körperlich krank. Ein brutales Schicksal. Eine Geschichte von unermesslichen
Tränen, Leid und Schuld. Diese Kinder durften die Traditionen ihrer Eltern
nicht leben. 2008 hat sich die kanadische Regierung erstmals offiziell dafür
entschuldigt. Und jetzt in den vergangenen Jahren noch einmal ein böses
Erwachen, aber auch endlich Gewissheit: Die Leichen vieler der gestohlenen und verschwundenen
Kinder werden entdeckt. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht.
Der
Titel des Bildes heißt ins Englische übersetzt „looking ahead“ – schau nach
vorn. Das meint aber nicht nur sowas wie: Es muss weitergehen. Guck nach vorne.
Es meint etwas Tieferes: Erinnere dich. Was geschehen ist. Und sieh: Immer
wieder setzt sich Leben durch. Dein Leben ist eingebettet in das deiner
Vorfahren. In die ganze Natur. Die heilsamen Rituale, die Verbundenheit mit der
Natur, alles das hat das Volk sich bewahrt. Die ersten Nationen können mich
einiges lehren.
Was
es bedeutet im Einklang mit der Natur zu leben und nicht gegen sie. Und noch
eine Botschaft liegt in dem Bild – verborgen hat die Künstlerin in
verschiedenen Sprachen der First Nations immer wieder diesen Satz
untergebracht: „Ich liebe dich, mein Kind“. Ein Satz, den Mütter und Väter
ihren Kindern nicht mehr sagen konnten. Und den diese schmerzlich vermisst
haben. Und damit es ist es eben doch ein Weihnachtsfenster: Weihnachten kommt
die Liebe selbst in die Welt in Jesus Christus. Liebe, die mich stark macht, in
Frieden und in gegenseitigem Respekt mit meinen Erdengeschwistern zu leben.
Christin Belcourt hat es so gesagt: „Die Menschen der ersten Nationen haben
große Dinge für das Land getan und tun es weiterhin. Und wir haben es immer auf
friedlichem Weg getan. Und wir haben so viel gegeben, und gegeben, und gegeben.
… Wir werden stärker sein, wenn wir zusammenkommen, beide Seiten, und einander
respektieren.“
Es grüßt Sie,
Petra Schulze aus Düsseldorf.
Quelle:
Christi
Belcourt describes ‚Giniigaaniimenaaning‘
https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1353338933878/1571583766968
(letzter Abruf 01.12.2021)
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