Ich liebe dich, mein Kind

Kirche in WDR3 | 14.12.2021 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen.

Es

ist ein grau-nebliger Herbsttag. In Kanada, in der Stadt Ottawa stehe ich im

Museum vor einem bunten Glasfenster. Ein schönes Weihnachtsfenster, denke ich.

Ich sehe Maria und das Jesuskind. Und Joseph schlägt die Trommel, wie die

ersten Nationen Kanadas sie benutzen. Und hier, eine weiße Taube – sicher der

Heilige Geist. Und wie in vielen gläsernen Kirchenfenstern Europas sind Ranken

und Blumen zu sehen: Hier sind es wilde Erdbeeren und Blaubeeren. Doch dieses

Fenster ist kein Kirchenfenster. Und die Geschichte von Geburt, Leiden und Tod

darauf ist nicht die Geschichte vom kleinen Jesuskind. Oder doch?

Die

Künstlerin Christi Belcourt hat das Fenster 2008 geschaffen. Sie hat das Leben

der ersten Nationen Kanadas in all seiner Vielfalt darauf dargestellt. Dabei

auch das Unrecht, das ihnen von Christinnen und Christen zugefügt worden ist.

„Man sah uns als Wilde“, sagen die Frauen und Männer der ersten Nationen. Und

so errichteten christliche Kirchen Schulen für diese „wilden Kinder“. Man entriss

sie ihren Eltern und brachte sie in Heime und Schulen. Auch Zwangsadoptionen

waren an der Tagesordnung. Auf dem Glasbild sind die Kinder in grau

dargestellt. Sie stehen wie hölzerne Puppen in Reih und Glied mit traurigen

Gesichtern vor den schmucklosen Schulhäusern und Heimen. Diese Kinder sind in

christlichem Glauben aufgewachsen, fernab ihrer Familien. Bis heute leiden sei

schwer daran: entwurzelt, missbraucht, gequält. Viele sind psychisch und

körperlich krank. Ein brutales Schicksal. Eine Geschichte von unermesslichen

Tränen, Leid und Schuld. Diese Kinder durften die Traditionen ihrer Eltern

nicht leben. 2008 hat sich die kanadische Regierung erstmals offiziell dafür

entschuldigt. Und jetzt in den vergangenen Jahren noch einmal ein böses

Erwachen, aber auch endlich Gewissheit: Die Leichen vieler der gestohlenen und verschwundenen

Kinder werden entdeckt. Endlich kommt die Wahrheit ans Licht.

Der

Titel des Bildes heißt ins Englische übersetzt „looking ahead“ – schau nach

vorn. Das meint aber nicht nur sowas wie: Es muss weitergehen. Guck nach vorne.

Es meint etwas Tieferes: Erinnere dich. Was geschehen ist. Und sieh: Immer

wieder setzt sich Leben durch. Dein Leben ist eingebettet in das deiner

Vorfahren. In die ganze Natur. Die heilsamen Rituale, die Verbundenheit mit der

Natur, alles das hat das Volk sich bewahrt. Die ersten Nationen können mich

einiges lehren.

Was

es bedeutet im Einklang mit der Natur zu leben und nicht gegen sie. Und noch

eine Botschaft liegt in dem Bild – verborgen hat die Künstlerin in

verschiedenen Sprachen der First Nations immer wieder diesen Satz

untergebracht: „Ich liebe dich, mein Kind“. Ein Satz, den Mütter und Väter

ihren Kindern nicht mehr sagen konnten. Und den diese schmerzlich vermisst

haben. Und damit es ist es eben doch ein Weihnachtsfenster: Weihnachten kommt

die Liebe selbst in die Welt in Jesus Christus. Liebe, die mich stark macht, in

Frieden und in gegenseitigem Respekt mit meinen Erdengeschwistern zu leben.

Christin Belcourt hat es so gesagt: „Die Menschen der ersten Nationen haben

große Dinge für das Land getan und tun es weiterhin. Und wir haben es immer auf

friedlichem Weg getan. Und wir haben so viel gegeben, und gegeben, und gegeben.

… Wir werden stärker sein, wenn wir zusammenkommen, beide Seiten, und einander

respektieren.“

Es grüßt Sie,

Petra Schulze aus Düsseldorf.

Quelle:

Christi

Belcourt describes ‚Giniigaaniimenaaning‘

https://www.rcaanc-cirnac.gc.ca/eng/1353338933878/1571583766968

(letzter Abruf 01.12.2021)

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/56964_WDR3520211214Schulze.mp3

  • 14.12.2021
  • Petra Schulze
  • © Tim Marshall on Unsplash
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