Einsamkeit

Kirche in WDR2 | 04.05.2022 | 00:00 Uhr

Jeder kennt sie. Es gibt sie

in allen Altersphasen: die Einsamkeit. Einsamkeit hat viele Gesichter, das

Grundgefühl bleibt aber immer ähnlich: Ich fühle mich traurig, ich fühle mich unverstanden,

ich bin so seltsam müde. Jeder fünfte Mensch hat „Symptome chronischer

Einsamkeit“, hieß es bei einer Anhörung von Experten im deutschen Bundestag zu

diesem Thema.

Und besonders betroffen seien

Menschen zwischen 18 und 29 Jahren sowie ab 80. – Da habe ich mit Mitte 50

vielleicht ja gerade einen glücklichen Lebensabschnitt, denke ich.

Andererseits: Die Bibel

erzählt von einem Mann, Zachäus heißt er, der wohl eher mein Alter ist. Dieser

Mann, erzählt die Bibel (Lk, 19), steht mitten im Berufsleben und hat sich

privat doch irgendwie auf Distanz zu seiner Umwelt eingerichtet. Der Beruf

bestimmt sein Leben. Als Zöllner und Geldeintreiber durchaus einträglich. Von

guten Freunden ist aber nicht die Rede. Von einem Baum aus, versteckt oben in

der Krone, verfolgt dieser Zachäus das Leben in seiner Stadt. Näher konnte oder

wollte er den Menschen persönlich wohl nicht kommen.

Jesus sieht Zachäus dort oben

und spricht: „Komm herunter! Ich möchte in deinem Haus einkehren.“ Für unser

Empfinden klingt das wohl etwas übergriffig. Doch dieser Satz verändert alles. Zachäus

steigt vom Baum und die beiden essen zusammen. Und Zachäus schöpft neu Kraft:

Er öffnet sich für seine Mitmenschen und teilt sein Geld mit anderen. Eine von

vielen kleinen Glücksgeschichten in der Bibel.

Die Botschaft ist: Menschen,

denen es nicht mehr gelingt, auf andere zuzugehen, bei denen dürfen wir uns

einladen. Dafür braucht es wache Augen und Mut zur Nähe. Auch heute. Gerade

nach zwei Jahren Abstandüben und viel digitaler Wirklichkeit. Wir müssen neu

lernen zu schauen: Wo finden wir Berührungsflächen, Orte der Begegnung, die der

Seele guttun.

Einsamkeit ist ein großes

Thema, oft leider auch noch ein großes Tabu in unserer Gesellschaft. Gut, dass

es im Bundestag Thema wurde. Denn die Einsamkeit ist nicht nur ein Elend für

jeden, der sie erlebt. Sie kann auf Dauer auch zu einer Gefahr für unsere

Gesellschaft werden. Immer mehr Menschen igeln sich ein, kapseln sich ab. Und sie

verlieren dabei nicht nur das Gespür für sich selbst, sondern auch für ihre

Mitmenschen. Unsere Gesellschaft, unsere Demokratie kann aber nur funktionieren,

wenn möglichst viele das Gefühl haben, wir gehören zusammen.

„Komm herunter vom Baum!“ Ich

möchte es vielen Menschen zurufen, die sich wie der Zöllner Zachäus irgendwo –

aus welchen Gründen auch immer – zurückgezogen und versteckt haben. Und sollte

ich selbst mal da oben hocken, würde ich mir wünschen, dass auch mich einer

sieht und anspricht: „Komm herunter, wir gehen gemeinsam essen!“

Quelle: Dr.

Susanne Bücker (Ruhr-Universität Bochum 2021): „Einsamkeit – Erkennen,

evaluieren und entschlossen entgegentreten“, Schriftliche Stellungnahme für die

öffentliche Anhörung Deutscher Bundestag-Drucksache BT 19/25249

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 4.5.2022
  • Joachim Gerhardt
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