Das erste und letzte Foto

Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember ruft die Initiative Weltweites Kerzenleuchten dazu auf, verstorbener Kinder zu gedenken und für sie eine Kerze anzuzünden. Die Kerzen leuchten am 12. Dezember auch für Sternenkinder: Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt gestorben sind. Pfarrerin Karin Holdmann, evangelische Krankenhausseelsorgerin in den Sana-Kliniken in Duisburg, kümmert unter anderem um deren Eltern. Und sie kann ihnen nach ihrem schweren Verlust ein besonderes Angebot machen: liebevolle Fotos von ihren „Sternchen“.


Krankenhausseelsorgerin Karin Holdmann begleitet Eltern von Sternenkinder.

„Diese Fotos sind ganz wichtig für die Eltern und ihren Trauerprozess, denn die Erinnerungen verblassen mit der Zeit“, sagt die Seelsorgerin. „Die Bilder sind das einzige, was ihnen von der kurzen Zeit bleibt, die sie mit ihrem Kind verbracht haben. Etwas, das sie in den Händen halten und auch zeigen können.“ Geschwisterkinder, Großeltern und Freunde hätten das Kind nie kennenlernen können und die Bilder seien ein Beweis, dass es dieses Kind tatsächlich gegeben hat: „Es gewinnt dadurch Realität und Raum in der Familie.“

„Wir schauen das Kind an, ganz in Ruhe“

Wenn im Krankenhaus ein Sternenkind geboren wird, nimmt Karin Holdmann möglichst schon vorher Kontakt zu den Eltern auf, lässt sich von dem Kind erzählen, fragt nach dem Namen, der Schwangerschaft, hört zu. Nach der Geburt kommt sie wieder. „Wir schauen das Kind gemeinsam an, in aller Ruhe, und sprechen über die Geburt und das, was jetzt passieren soll.“ Für die Seelsorgerin ist es etwas ganz Besonderes, Eltern in diesen Situationen beistehen zu dürfen. „Es berührt mich, denn es ist nicht selbstverständlich, etwas so Persönliches und Intimes mit mir zu teilen. Ich bedanke mich immer für das Vertrauen, dass die Eltern mir schenken.“

Winzige Kleidung, handgemacht von Ehrenamtlichen

„Die totgeborenen Kinder werden schon im Kreißsaal ganz liebevoll von den Hebammen in kleine Stoffschiffchen oder Körbchen gelegt“, erzählt Karin Holdmann. Es gebe kleine Deckchen, Mützchen und Kleidung, die von Ehrenamtlichen speziell für die Sternenkinder angefertigt wird – alles winzig, denn die Babys haben teilweise ein Gewicht von unter 500 Gramm. Die Eltern bekommen eine Kerze geschenkt sowie kleine Herzen, Sterne oder Engelfigürchen, „etwas, das sie mit nach Hause nehmen können und etwas, das beim Kind bleibt“, sagt die Pfarrerin. Und sie erzählt den Eltern von der Möglichkeit, Fotos machen zu lassen.

Sofort überzeugt vom Sternenkind-Projekt

Früher hat Karin Holdmann selbst zur Kamera gegriffen, doch vor etwa drei Jahren erfuhr sie, dass es Profi-Fotografen gibt, die sich ehrenamtlich anbieten. „2018 haben wir mit mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kinderintensiv-Station eine Fortbildung in der Berliner Charité mitgemacht und haben dort Kai Gebel kennengelernt, den Initiator des Projekts ,Dein Sternenkind‘ . Wir waren sofort überzeugt und haben das Projekt an unserer Klinik vorgestellt.“ Dort war man ebenfalls begeistert, und mittlerweile ist die Vermittlung von Sternenkinder-Fotografen üblich.

Sternenkinder-Fotografen arbeiten ehrenamtlich

Das Projekt „Dein Sternenkind“ basiert auf einem Netzwerk von Fotografinnen und Fotografen, die alle dazu bereit sind, auf Abruf Sternenkinder zu fotografieren – ehrenamtlich, ohne Bezahlung. Sie bekommen über eine Handy-App Bescheid, wenn es in ihrem Umkreis ein Sternenkind zu fotografieren gibt, und in kürzester Zeit übernimmt jemand den Einsatz.

„Ich kann es machen, weil es wichtig ist“

Katja Radloff fotografiert Sternenkinder – weil sie weiß, wie wichtig es für die Eltern ist.

Katja Radloff aus Essen ist eine der Fotografinnen und Fotografen, die sich in so einem Fall auf den Weg machen.  In ihrem beruflichen Alltag fotografiert sie viele Familien. „Tote Kinder zu fotografieren ist anders. Ich werde mit der Trauer der Eltern konfrontiert, ich treffe mitunter auf Hebammen, die sehr betroffen sind, und man hat dann noch sein eigenes Päckchen zu tragen“, sagt sie. „Tote Kinder zu fotografieren ist schwer, aber auch unfassbar wichtig – gerade für die Eltern. Und deshalb kann ich das machen.“

Zu wenig Eltern wissen von der Möglichkeit

Zum Projekt „Dein Sternenkind“ ist sie im Jahr 2018 über einen Aufruf bei Facebook gekommen. Seitdem fotografiert sie etwa ein Sternenkind pro Woche. Ihr größter Wunsch ist es, dass noch mehr Leute von „Dein Sternenkind“ erfahren. „Wir werden immer häufiger gerufen, in den vergangenen zwei, drei Jahren ist Zahl der Anfragen nach oben geschnellt.“ Im Jahr 2021 werden es voraussichtlich mehr als 4500 Sternenkinder in Deutschland und den Grenzgebieten sein. Und dennoch: Es gebe immer noch viel zu wenig Eltern, die von dieser Möglichkeit wüssten. „Ich bin bei Facebook in einem Sternenkind-Forum angemeldet und ich bekomme eine Gänsehaut, wenn eine Mutter schreibt: Ich habe nichts von euch gewusst und jetzt ist mein Kind schon beigesetzt.“

„In dem Raum ist so viel Liebe“

Auf Seiten der Fotografinnen und Fotografen wird dringend nach Verstärkung gesucht. Die Vorstellung, tote Kinder zu fotografieren, schreckt möglicherweise erst einmal ab, vermutet Katja Radloff. Aber sie kann nur Mut machen: „Man erwartet in diesem Krankenhauszimmer etwas anderes, als man am Ende bekommt“, sagt sie. „Ja, diese Eltern sind traurig und sie weinen. Aber: In diesem Raum ist so viel Liebe. Diese Eltern lieben ihr Kind so sehr – und das ist es, was mich immer wieder zum nächsten Einsatz trägt. Weil diese Liebe am Ende so viel mehr wiegt als der Schmerz.“

  • 10.12.2021
  • Christina Schramm
  • Heiko Kantar