Das Wir zählt

Kirche in WDR3 | 04.05.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Ich kann die Bilder noch immer nicht

vergessen.

Meterhohe Schlammberge, Unrat, Mobiliar,

Vorräte aus Kellern säumen die Straßen und Gehwege nach der Flut im Ahrtal.

Verwüstung, Zerstörung wohin das Auge blickt.

Monate später auf einer Fahrt durch die Orte

an der Oberahr: noch immer eine Schneise der Verwüstung. Obwohl doch schon so

viel Zeit vergangen ist seitdem…

Aber dann: ein buntes Haus inmitten der

Zerstörung. Rundherum bemalt, mit Graffiti-Kunst verschönert. Es fällt ins

Auge, sticht hervor, ist ein Magnet.

Passanten bleiben stehen, staunen und beginnen

zu lesen:

„Wenn Du durch tiefes Wasser und reißende

Ströme gehst, ich bin bei Dir!“ steht da in

großen blauen Buchstaben an der Hauswand. Das Zitat stammt aus der Bibel. Aus

dem Buch des Propheten Jesaja. Es liest sich wie ein Hilferuf inmitten größter

Not. Und klingt doch auch absurd.

„Ich bin bei Dir“ – ja wie denn und wo? Möchte

ich fragen.

Wo warst Du Gott, als das Wasser kam? Wo bist

Du gewesen in jener Nacht und die Tage danach als das Ausmaß erst richtig

sichtbar wurde? Wo warst Du in Verzweiflung und Schrecken? Wo warst Du, als

Menschen in den Fluten ertrunken sind?

Das bunt angemalte Haus gibt Zeugnis davon.

Das aufgesprayte Bild eines Hubschraubers von der Höhenrettung Stuttgart, der

am 15.07.2021 um 12 Uhr vier Personen von der oberen Terrasse dieses Hauses und

danach viele mehr gerettet hat, erschüttert mich. Ich kann nur ansatzweise

ahnen, welch’ dramatische Szenen sich dort abgespielt haben müssen.

Und es schaudert mich, auch nach zehn Monaten

noch.

Und doch fühle ich mich auch zu den

Graffitibildern hingezogen. Auf einer Seite des Hauses sind unzählige bunte

Handabdrücke zu sehen. Und über jedem Abdruck lese ich einen Namen. Es sind die

Namen der Helferinnen und Helfer. Marius, Kay und Julian. Mareike, Becci und

Carola. Als Überschrift über allen Namen steht: Das WIR zählt.

Tief bewegt stehe ich vor dieser Szene. So

sehr die Schrecken und Erinnerungen noch immer präsent sind, so sehr

beeindruckt mich dieser Satz, der so groß auf die Hauswand gesprayt ist: „Wenn

Du durch tiefes Wasser und reißende Ströme gehst, ich bin bei Dir!“

Viele, viele Menschen sind da gewesen, bei

denen, die ihre Hilfe dringend brauchten.

Haben mit ihnen im tiefen Wasser gestanden und

Hände gereicht, getröstet, geschippt, geholfen. Gemeinsam getrauert und

gelacht. Gelitten und gehofft. Darauf, dass es nicht so bleibt wie es ist. Dass

es eines Tages wieder werden wird. Noch schöner als zuvor.

Dass es gemeinsam einen Neuanfang geben kann.

Das Wir zählt!

„Ich bin bei Dir“

– das ist in der Bibel ein Versprechen Gottes in ärgster Not.

Meine Zweifel bleiben. Und doch ahne ich, dass

Gottes Nähe etwas mit den Menschen zu tun haben kann, die vor Ort waren ganz

nah und unmittelbar.

Ich weiß, der Schrecken wird noch lange

bleiben, vielleicht auch nie vergehen.

Aber hoffentlich trägt auch die Erfahrung,

dass andere bei mir sind und helfen, wo sie können, wenn ich ich Not bin.

Das wünscht Pfarrerin Christiane Neufang aus

Köln.

Redaktion:

Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58040_WDR3520220504Neufang.mp3

  • 4.5.2022
  • Christiane Neufang
  • © Christiane Neufang
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