Guten
Morgen.
Ich
bin erleichtert und freue mich. Sie hat mich erkannt. Sie scheint noch kleiner
und schmaler geworden zu sein, wie sie so in ihrem Bett im Zimmer des
Altenheims liegt. Aber ihre Augen leuchten und sie lächelt, als sie mich
erkennt. Nach zwei Schlaganfällen ist sie nun hier. Ihre Familie kümmert sich
liebevoll um sie, aber in ihren eigenen vier Wänden konnte sie nicht mehr
bleiben. Wir kennen uns seit über 20 Jahren, haben manches miteinander erlebt
und ich fühle mich ihr sehr verbunden. In diesem Jahr wird sie 88. Durch die
Schlaganfälle ist auch ihr Gedächtnis betroffen – das weiß sie sehr genau, als
sie traurig lacht und sagt: „Wenn Sie mir jetzt etwas erzählen, Frau Krumbach,
ist alles klar; aber heute Nachmittag habe ich es wieder vergessen.“ Wir unterhalten
uns darüber, wie es ihr jetzt geht, über vergangene Erlebnisse und über ihre
Familie – einiges davon weiß sie, anderes nicht. Im Lauf unseres Gespräches
sage ich zu ihr: „Ich habe Sie immer dafür bewundert, dass Sie nichts auf die
lange Bank geschoben haben. Dass Sie trotz Ihrer Herzerkrankung regelmäßig
Urlaub mit Ihrer Freundin gemacht haben, dass Sie mit der Kirchengemeinde
unterwegs waren und so manches Fest gefeiert haben. Sie haben so viel Schönes
erlebt. Das kann Ihnen niemand mehr nehmen.“ – Da blickt sie mich wehmütig an
und sagt leise: „Ja, aber was nützt mir das, wenn ich mich nicht mehr daran
erinnere?“
Ihre
Worte machen mich betroffen, und wir schweigen eine Weile, bevor wir das
Gespräch wieder aufnehmen.
Nach
meinem Besuch denke ich über ihren Satz nach: „Was nützt mir das, wenn ich mich
nicht mehr daran erinnere.“ Wie leicht
sagen wir das: „Die Erinnerungen kann uns niemand nehmen.“? Die Erinnerung an
eigene Erlebnisse oder die Erinnerung an geliebte Menschen, die gestorben sind.
Wie oft lese ich unter einer Traueranzeige die Worte: „In unserer Erinnerung lebst
du weiter“. Natürlich, viele Erinnerungen bleiben eine lange Zeit lebendig,
aber sie können auch verblassen oder sogar gänzlich verschwinden. Ausgelöscht
aus dem Gedächtnis, als hätte es sie nie gegeben.
Im
letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, sind die Worte Jesu
Christi zu lesen: „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der
Anfang und das Ende.“ (Die Bibel, Offenbarung 22,13) Das bedeutet für mich,
dass Jesus Christus alles umfasst: die gesamte Schöpfung, die Dimension der
Zeit und sogar jedes einzelne Menschenleben. Von A-Z hat er alles im Blick, vom
Kleinen bis zum Unendlichen. Er weiß um alles, was geschehen ist, Schönes wie
Trauriges, Gutes wie Schlechtes. Bei ihm gerät nichts in Vergessenheit oder
geht verloren. Bei ihm ist alles aufgehoben – auch das, was wir längst
vergessen haben. So unvorstellbar dieser Gedanke ist, so tröstlich finde ich
ihn.
Einige
Tage später treffe ich sie im Dorf. Ihre Tochter schiebt sie im Rollstuhl und beide
genießen das schöne Wetter. Auch diesmal erkennt sie mich sofort. Wir unterhalten
uns einige Minuten.
Ob
sie sich an unser letztes Gespräch erinnert, weiß ich nicht. Aber das ist auch
nicht so wichtig. Jesus Christus ist der Anfang und das Ende – bei ihm ist
alles aufgehoben.
Gott
befohlen! Ihre Johanna Krumbach, Pfarrerin in Augustdorf.
Redaktion:
Landespfarrerin
Petra Schulze
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