Schönes Leben

Kirche in WDR2 | 19.04.2022 | 00:00 Uhr

Es ist halb acht morgens. So

ungefähr. Mein Kleiner und ich sind auf dem Weg zum Kindergarten. Ich bin

ziemlich gestresst. Wir sind ein bisschen spät dran. Heute hat alles mal wieder

länger gedauert: Frühstück, Anziehen. Beim Zähneputzen das T-Shirt versaut.

Ausziehen. Wieder anziehen. Das dauert. Und das Büro wartet. Ich gebe ein bisschen

mehr Gas. Versuche, die verlorene Zeit wieder hereinzuholen. Radio an.

Nachrichten: Kriegsnachrichten. Klimawandel. Corona-Befürchtungen.

Energiepreise. Ach nee. Aus damit. Nicht am frühen Morgen. Stattdessen gehe ich

im Kopf lieber schon mal die Dinge durch, die mich gleich auf der Arbeit

erwarten. Plötzlich ein lauter Seufzer hinten vom Kindersitz. Was ist? Frage

ich. Ach Papa, sagt mein Kleiner und seufzt noch mal, was haben wir doch für

ein schönes Leben! Haben wir? Denke ich. Eben noch kam mir alles ziemlich

düster vor. Und unerfreulich. Auf „schön“ wäre ich im Moment nun wirklich nicht

gekommen. Wie kommst du darauf? Und er erzählt von der Sonne, die so schön

scheint. Und auf dem Weg zum Auto hat er die Vögel gehört. Die haben gesungen.

Ganz toll war das. Gleich im Kindergarten wird er spielen. Und wir beide, er

und ich, überhaupt die ganze Familie, wir haben uns lieb. Ein schönes Leben.

Ach so. Sage ich. Und bin auf Knopfdruck neidisch. Die Sonne scheint wirklich

wunderbar, die Vögel haben wirklich toll gesungen und es ist einfach ein

schöner Tag. Und ich habe von alldem nichts gemerkt. Weil ich mich in meinem

kritischen Erwachsenenkopf auf andere Dinge konzentriere. Ich suche und finde Sorgen

und Probleme. Und die Sorgen finden mich. Was nicht gut läuft liegt immer obenauf.

Ich sehe nicht das halbvolle, sondern das halbleere Glas. Und so sieht es für

mich immer nach November aus. Obwohl es Frühling ist. Für ihn nicht. Er ist

dankbar für das, was schön ist. „Lobe den Herrn meine Seele und vergiss nicht,

was er dir Gutes getan hat.“ So heißt es in einem alten Psalm in der Bibel. Mir

fällt das schwer. Weil das Schlechte sich in meinem Kopf so breit macht und

sich aufdrängt, passiert es mir immer wieder, dass ich das Gute einfach nicht

wahrnehme. Aber es ist doch da. Mitten in der Traurigkeit. Mitten in der Sorge.

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Schwer für mich. Aber: Der kleine

Philosoph hinter mir im Kindersitz schafft das spielend. Ein bisschen bin ich

neidisch. Und dankbar, dass er es in solchen Momenten schafft, mich in seine

Welt mitzunehmen. Und dann lächle ich. Für einen Moment. Selbst in solchen

Zeiten.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 19.4.2022
  • Thomas Schrödter
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