Autorin: Advents- und Weihnachtszeit ist Familienzeit.
Kindheitserinnerungen werden wach. Räucherkerzen duften, Kerzen flackern, Nussschalen
knacken, jemand liest Geschichten vor, und es duftet nach Orangen. Hochzeit für
den Heile-Familie-Mythos.
Musik 1: Jingle Bells
Titel:
Jingle Bells, Komposition: James Lord Pierpont; Interpret: Till Brönner; Album:
Christmas; Label: Sony Music; LC: 02604
Autorin: Dahinter verschwindet schnell, dass für mache
Frauen und Kinder die Familie der riskanteste Ort auf der Welt ist – ein Ort
von Unterdrückung und Gewalt. Etwa 17 000 Frauen suchen in Deutschland jährlich
Schutz vor familiärer Gewalt in einem Frauenhaus und noch einmal ebenso viele
Kinder. Rund 380 Frauenhäuser gibt es in Deutschland, und das sind viel zu wenig.
Der Bedarf ist viel größer. Etwa 3 Monate bis zu einem Jahr bleiben die Frauen
im Frauenhaus. Sie kommen zur Ruhe, erholen sich von traumatischen Erfahrungen
und organisieren ihr Leben neu. Frauen und Kinder werden traumapädagogisch
versorgt, sie erhalten Unterstützung bei den notwendigen Behördengängen. Vor
allem werden sie darin bestärkt, dass sie ein Recht auf ein Leben ohne Angst
und Gewalt haben.
Die
Frauen bringen oft ein ganzes Bündel aus Problemlagen und Belastungen mit. Alle
sind von häuslicher Gewalt betroffen, viele haben schon eine schwere Kindheit
erlebt, andere haben eine Fluchtgeschichte hinter sich oder wurden
zwangsverheiratet. Aktuelle Gewalterfahrungen verbinden sich mit früheren
Belastungen. In der traumapädagogischen Arbeit lernen sich die Frauen selbst
besser kennen: Die Seite in sich, die weg will von Schlägen und Demütigungen,
die sich ein besseres Leben wünscht und die sie ins Frauenhaus gebracht hat.
Aber auch die Seite in Ihnen, die immer wieder hofft, dass alles gut wird, und
sich eine heile Familie wünscht. Meist gibt es auch eine Seite, die sich
schuldig fühlt und zurückwill. Es dauert, bis die Frauen mit viel Unterstützung
wieder Boden unter die Füße bekommen.
Etwa
70 % der Frauen bringen ihre Kinder mit ins Frauenhaus. Auch sie sind geprägt
und verstört durch die Gewalt, die sie erlitten haben und die sie mit ansehen
mussten. Frauen und Kinder werden angeregt, ihre Geschichte anders zu
begreifen: Nicht nur darüber zu reden, was sie erlitten haben, sondern auch
darüber, wie sie überlebt haben. Aus Geschichten voller Leid und Demütigung werden
Geschichten von mutigen Heldinnen, die es in die Freiheit schaffen. Nicht nur
das Leid, auch der Mut wird endlich gewürdigt. Die Frauenhausmitarbeiterinnen
sind dafür zwar oft traumapädagogisch geschult, aber es fehlt – wie so oft – an
Zeit und Personal, ein Mangel, der sich durch die Geschichte der Frauenhäuser
zieht.
1976
wurde das erste Frauenhaus in Deutschland gegründet von feministischen Frauen
in Westberlin, wenig später das erste in Nordrheinwestfalen in Köln.
O-Ton Albrink: 1980 ist dann unser Frauenhaus in
Herford entstanden und ebenso in Gütersloh und Paderborn und auch in Warendorf.
Autorin: berichtet Daniela Albrink, seit 11 Jahren
Mitarbeiterin des Frauenhauses Herford, Sozial- und Traumapädagogin und heute
meine Gesprächspartnerin. Auch dort sind sie fast immer voll belegt und müssen
immer wieder Frauen an andere Häuser verweisen. Es fehlen die notwendigen Plätze.
O-Ton Albrink: Ja, traurig, dass wir so viele Frauen
halt eben abweisen müssen, die anrufen, die in Not sind und die wir leider
nicht aufnehmen können, weil unser Haus aus allen Nähten platzt.
Autorin: Weihnachten macht da keine Ausnahme. Manche Frauen
versuchen zwar erst nach Weihnachten zu fliehen, weil sie selbst das „Heile
Familie-Bild“ im Kopf haben und den Kindern das Weihnachtsfest nicht verderben
wollen. Aber: Das Bild ist brüchig. Wird das gutgehen? Oder wird der Herr im
Haus wieder betrunken sein? Wird er wieder zuschlagen wegen irgendeiner Lappalie
und werden die Kinder sich unter dem Tisch verkriechen?
Wenn
es dann doch nicht klappt, über Weihnachten zu bleiben, wenn die Gewalt schon
vor Weihnachten so eskaliert, dass sie fliehen müssen und sie ins Frauenhaus
kommen, ist Weihnachten in Sicherheit oft das größte Geschenk – auch für die
Kinder.
O-Ton Albrink: Das ist auch unser oberstes Ziel, dass
die Frauen und Kinder halt eben ein Weihnachten erleben in Sicherheit und nicht
Angst haben müssen, was passiert jetzt gleich. Und für die Kinder ist es eben
viel, viel wichtiger, einen sicheren Ort im Frauenhaus zu haben, als das
vorgespielte schöne Weihnachten zuhause.
Autorin: So Daniela Albrink. Die Frauenhausmitarbeiterinnen
wissen um die Not der Frauen und um ihr schlechtes Gewissen und sie versuchen,
es den Frauen so schön wie möglich zu machen. Es wird geschmückt und gebastelt,
es werden Plätzchen gebacken und Geschichten erzählt, der Bürgermeister spendet
einen Weihnachtsbaum, und es gibt eine ganz besondere Geschenkaktion.
O-Ton Albrink: Bei uns ist es so, dass allgemein zur
Weihnachtszeit die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung auch eher höher ist
und … seit vielen Jahren gibt es schon die Aktion, dass die Kinder den
Wunschzettel ausgefüllt haben und dann gibt es einen Club von ganz engagierten
Frauen, die dann den Kindern eben ihre Wünsche erfüllen. Das ist eine sehr
schöne Aktion, ist auch wirklich noch mal was Besonderes, mit wie viel Herzblut
allein die Geschenke verpackt werden. Und das haben wir dann ausgeweitet, dass
die Frauen eben auch einen Wunschzettel ausfüllen können – nicht nur die Kinder
und dann werden eben auch die Frauen beschenkt mit ihren Wünschen.
Und das ist so besonders, dass oft auch Frauen sagen,
die ausgezogen sind: Weihnachten komme ich euch wieder besuchen. Das war so
toll: Zum ersten Mal hab ich was nur für mich bekommen- das, was ich mir
gewünscht habe – dass sich andere Menschen Gedanken gemacht haben und das so
schön verpackt haben, das kennen die Frauen manchmal gar nicht.
Autorin: Und dann feiern Frauen und Kinder mit
unterschiedlichen Geschichten, aus unterschiedlichen Nationen und Religionen
miteinander Weihnachten, Frauen und Kinder, die eines verbindet: der Wunsch
nach einem Leben in Sicherheit ohne Gewalt und Unterdrückung.
O-Ton Albrink: Und ich find’s immer schön, dass das
alles so gemischt wird. Also bei uns gibt es manchmal arabisches Essen oder die
Frauen kochen ganz besondere Sachen, die ich so nicht kenne, und das ist auch
für uns irgendwie so was ganz Besonderes.
Musik 2: Ya Mariam
Titel: Ya
Mariam; Text/Melodie: Traditional; Interpreten: Jazz.Ufermann/ Hayat Chaoui; Album:
59 Minuten Weihnachten, Label: Erhard Ufermann. Eigenproduktion.
Autorin: Auch wenn das erste Frauenhaus in Deutschland erst
1976 gegründet worden ist: Frauen, die Schutz suchen mussten und auf die
Solidarität anderer Frauen angewiesen waren, hat es zu allen Zeiten gegeben. So
eine Geschichte steht auch schon in der Bibel und sie gehört in die
Adventszeit. „Marias Besuch bei Elisabeth“ steht harmlos darüber. Maria wird
eher Zuflucht gesucht haben bei Elisabeth. Sie ist unverheiratet schwanger –
eine Katastrophe in jenen Zeiten. Gott hat ihr durch den Engel sagen lassen,
das Kind ist vom Heiligen Geist, und von dem Kind sei Großes zu erwarten. Das
ist tröstlich, macht die aktuelle Lage aber auch nicht besser.
Joseph,
ihr Verlobter, ist damals wahrscheinlich entsetzt. Er macht ihr zwar keine
wüste Szene und will sich eher heimlich von der Verlobung zurückziehen, aber
das alles in einem kleinen Dorf auf dem Land zur Zeitenwende: eine Katastrophe.
Maria
weiß nicht aus noch ein, so stelle ich mir vor. Hier in Nazareth kann sie nicht
bleiben. In der Not flüchtet sie zu ihrer Verwandten Elisabeth. Die kennt sie
als gut situierte lebensweise Frau. Da erhofft sie sich Solidarität statt Häme
und Zuflucht. Dort hofft sie zur Ruhe zu kommen. Elisabeth wird sie verstehen,
denn auch für sie ist es nicht so leicht gerade. Sie ist im hohen Alter noch
schwanger geworden, und auch da sind sich die Leute einig: „Das gehört sich
nicht!“
So
werden sich die beiden Frauen gegenseitig gestützt haben. Auch zwischen den
beiden Kindern, die jetzt noch ungeboren sind, wird es eine Verbindung geben.
Johannes wird der Sohn der Elisabeth heißen. Johannes, der Täufer. Er wird Jesus,
den Sohn der Maria, taufen und alle Hoffnung auf ihn setzen.
Musik: O Heiland
Titel:
O Heiland; Text/Melodie: Traditional; Interpreten: Jazz.Ufermann/Hayat Chaoui;
Album: 59 Minuten Weihnachten, Label: Erhard Ufermann. Eigenproduktion.
Autorin: Am Ende hören wir: Maria hat Schutz und Ruhe
gefunden bei Elisabeth drei Monate lang. Sie hat auftanken können. Maria hat im
Haus von Elisabeth Schutz und Verständnis gefunden, Ruhe vor dem Geschwätz der
Leute und den hämischen Blicken. Und Elisabeth hat ihr noch mehr gegeben:
Wertschätzung für ihre besondere Schwangerschaft. Allmählich findet sie zurück
zu ihrem aufrechten Gang. Sie kann stehen zu dem, was ist. Am Ende wird für sie
mehr möglich sein als Schutz und Sicherheit: Sie traut sich zu träumen von
einer gerechteren Welt. Von einer Welt, in der es mehr gibt als Zuflucht, in
der ihr Gerechtigkeit widerfährt, in der die Mächtigen vom Thron gestoßen
werden und die Erniedrigten wieder aufrecht gehen können. Maria hat dieser
Hoffnung in ihrem Lobgesang Ausdruck verliehen, in einem Lied, das als
Magnificat überliefert worden ist. Dietrich Bonhoeffer hat es das
Revolutionärste aller Adventslieder genannt.
In
der Übertragung der Theologin Dorothee Sölle hört sich das so an:
Sprecherin
A, 1:
Es
steht geschrieben, dass Maria sagte:
meine Seele erhebt den Herren und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen
siehe von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder
Sprecherin B,1: Heute sagen wir das so:
Meine
Seele sieht das Land der Freiheit
Und
mein Geist wird aus der Verängstigung herauskommen
Die
leeren Gesichter der Frauen werden mit Leben erfüllt
Und
wir werden Menschen werden, von Generationen vor uns, den Geopferten, erwartet.
Sprecherin A, 2: Es steht geschrieben, das Maria sagte:
Gott
übt Macht mit seinem Arm und zerstreut die Hochmütigen
Er
stößt die Gewaltigen von ihrem Thron und die Getretenen richtet er auf.
Sprecherin B,2: Heute sagen wir das so:
Wir
werden unsere Besitzer enteignen
und
über die, die das weibliche Wesen kennen, werden wir zu lachen kriegen
die
Herrschaft der Männchen über die Weibchen wird ein Ende nehmen
aus
Objekten werden Subjekte werden
sie
gewinnen ihr eigenes besseres Recht.
Musik 3: O little town of
Bethlehem
O little town of Bethlehem; Interpret: Nils
Landgren; Album: Christmas With My Friends II, Label: ACT Music + Vision GmbH
& Ko KG; LC: 07644
Autorin: Maria kehrt aufrechten Ganges nach Nazareth zurück,
wo Joseph – vom Heiligen Geist zur Vernunft gebracht – sie wieder freundlich
aufnimmt. Aber schon droht die nächste Gefahr: Despotische Regierungskräfte,
römische Besatzer befehlen: Maria muss ihren Heimatort wieder verlassen. Das
Volk soll gezählt werden, da wo es geboren ist. Also wieder Wanderschaft in der
Kälte, diesmal ist das Paar gemeinsam unterwegs nach Bethlehem.
Dort
wird das Kind zur Welt kommen – nicht im trauten Heim, aber immerhin in einem
heimeligen Stall. Vorübergehend Sicherheit. Noch einmal gibt es Anerkennung für
das Kind: Wieder sind Engel im Spiel – diese Boten Gottes, die immer dann
auftauchen, wenn es schwierig wird und außergewöhnliche Lösungen gefragt sind.
Dann
geht es aber schon wieder auf die Flucht, diesmal ins Ausland nach Ägypten,
denn schon droht dem Kind der Tod. Der rücksichtslose Machthaber Herodes hat
von den Weisen aus dem Morgenland vernommen, in Bethlehem sei der König der
Juden geboren worden. Kurzerhand hat er den Befehl gegeben, alle männlichen
Neugeborenen in Bethlehem umbringen zu lassen. Um seine Macht zu erhalten, ist
ihm jedes Mittel recht.
Musik 4: Bachelor
Titel:
Bachelor; Komposition/Interpret: Julian Wasserfuhr & Roman Wasserfuhr;
Album: Running; Label: ACT Music + Vision GmbH & Ko KG; LC: 07644
Autorin: So wie die Zuflucht im Frauenhaus für viele Frauen
tägliche Realität ist, ist es leider auch die Flucht von Frauen mit kleinen
Kindern aus der Heimat, in der Krieg ist – eine Realität, die wir eigentlich in
Europa überwunden glaubten.
Und
doch: Es will Weihnachten werden, und die Frauen und Kinder, die Schutz suchen
vor roher Gewalt und nicht zuhause sein können, sind auf unsere Solidarität
angewiesen. Das ist auch der Wunsch von Daniela Albrink aus dem Frauenhaus
Herford:
O-Ton Albrink: Ja, wichtig ist mir immer, Verständnis
für unsere Frauen aufzubringen. Die haben keine Schuld daran, dass sie bei uns
sind. Das sind keine schlechten Mütter, weil sie den Vätern die Kinder
wegnehmen, sondern das sind Frauen, die sich eben schützen wollen, die ein
Leben ohne Gewalt verbringen möchten.
Autorin: Das Gleiche gilt für die Frauen aus der Ukraine:
Lasst uns solidarisch helfen, dass diese Frauen und Kinder, die bei uns Schutz suchen,
zur Ruhe kommen können und Weihnachten feiern ohne Gewalt – in Sicherheit.
Vielleicht
auch in der Hoffnung, die Maria getragen hat, als sie bei ihrem Besuch bei
Elisabeth einen Lobgesang anstimmt – getragen von der Hoffnung, dass sich
Machtstrukturen ändern: dass die Mächtigen vom Thron
gestoßen werden und die Erniedrigten wieder aufrecht gehen können. Noch
einmal Dorothee Sölle:
Sprecherin A 3: Es steht geschrieben, dass Maria sagte:
Denn
er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist
Und
sein Name heilig ist
und
seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht.
Sprecherin B 3: Heute sagen wir das so:
Die
große Veränderung, die an uns und durch uns geschieht
Wird
allen geschehen oder sie bleibt aus.
Barmherzigkeit
wird geübt werden,
wenn
die Abhängigen das vertane Leben aufgeben können und lernen, selber zu leben.
Autorin: So wünsche ich Ihnen und uns allen den Shalom, den
Frieden Gottes, zu dem Solidarität gehört sowie Abwesenheit von Gewalt und
Unterdrückung. Es wünscht Ihnen den Frieden Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, Sabine Haupt-Scherer von der evangelischen Kirche aus Bielefeld.
Musik 5: A Whiter Shade of Pale (feat. Nils
Landgren)
A Whiter Shade of Pale (feat. Nils Landgren);
Komposition: Gary Brooker & Keith Reid; Interpret: Magnus Lindgren; Album:
Stockholm Underground; Label: ACT Music + Vision GmbH & Ko KG; LC: 07644
Quellen: Dorothee Sölle zitiert nach: S. und H. K. Berg:
Warten, dass er kommt. 1986.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth