Maria nimmt Zuflucht

Das geistliche Wort | 18.12.2022 | 00:00 Uhr

Autorin: Advents- und Weihnachtszeit ist Familienzeit.

Kindheitserinnerungen werden wach. Räucherkerzen duften, Kerzen flackern, Nussschalen

knacken, jemand liest Geschichten vor, und es duftet nach Orangen. Hochzeit für

den Heile-Familie-Mythos.

Musik 1: Jingle Bells

Titel:

Jingle Bells, Komposition: James Lord Pierpont; Interpret: Till Brönner; Album:

Christmas; Label: Sony Music; LC: 02604

Autorin: Dahinter verschwindet schnell, dass für mache

Frauen und Kinder die Familie der riskanteste Ort auf der Welt ist – ein Ort

von Unterdrückung und Gewalt. Etwa 17 000 Frauen suchen in Deutschland jährlich

Schutz vor familiärer Gewalt in einem Frauenhaus und noch einmal ebenso viele

Kinder. Rund 380 Frauenhäuser gibt es in Deutschland, und das sind viel zu wenig.

Der Bedarf ist viel größer. Etwa 3 Monate bis zu einem Jahr bleiben die Frauen

im Frauenhaus. Sie kommen zur Ruhe, erholen sich von traumatischen Erfahrungen

und organisieren ihr Leben neu. Frauen und Kinder werden traumapädagogisch

versorgt, sie erhalten Unterstützung bei den notwendigen Behördengängen. Vor

allem werden sie darin bestärkt, dass sie ein Recht auf ein Leben ohne Angst

und Gewalt haben.

Die

Frauen bringen oft ein ganzes Bündel aus Problemlagen und Belastungen mit. Alle

sind von häuslicher Gewalt betroffen, viele haben schon eine schwere Kindheit

erlebt, andere haben eine Fluchtgeschichte hinter sich oder wurden

zwangsverheiratet. Aktuelle Gewalterfahrungen verbinden sich mit früheren

Belastungen. In der traumapädagogischen Arbeit lernen sich die Frauen selbst

besser kennen: Die Seite in sich, die weg will von Schlägen und Demütigungen,

die sich ein besseres Leben wünscht und die sie ins Frauenhaus gebracht hat.

Aber auch die Seite in Ihnen, die immer wieder hofft, dass alles gut wird, und

sich eine heile Familie wünscht. Meist gibt es auch eine Seite, die sich

schuldig fühlt und zurückwill. Es dauert, bis die Frauen mit viel Unterstützung

wieder Boden unter die Füße bekommen.

Etwa

70 % der Frauen bringen ihre Kinder mit ins Frauenhaus. Auch sie sind geprägt

und verstört durch die Gewalt, die sie erlitten haben und die sie mit ansehen

mussten. Frauen und Kinder werden angeregt, ihre Geschichte anders zu

begreifen: Nicht nur darüber zu reden, was sie erlitten haben, sondern auch

darüber, wie sie überlebt haben. Aus Geschichten voller Leid und Demütigung werden

Geschichten von mutigen Heldinnen, die es in die Freiheit schaffen. Nicht nur

das Leid, auch der Mut wird endlich gewürdigt. Die Frauenhausmitarbeiterinnen

sind dafür zwar oft traumapädagogisch geschult, aber es fehlt – wie so oft – an

Zeit und Personal, ein Mangel, der sich durch die Geschichte der Frauenhäuser

zieht.

1976

wurde das erste Frauenhaus in Deutschland gegründet von feministischen Frauen

in Westberlin, wenig später das erste in Nordrheinwestfalen in Köln.

O-Ton Albrink: 1980 ist dann unser Frauenhaus in

Herford entstanden und ebenso in Gütersloh und Paderborn und auch in Warendorf.

Autorin: berichtet Daniela Albrink, seit 11 Jahren

Mitarbeiterin des Frauenhauses Herford, Sozial- und Traumapädagogin und heute

meine Gesprächspartnerin. Auch dort sind sie fast immer voll belegt und müssen

immer wieder Frauen an andere Häuser verweisen. Es fehlen die notwendigen Plätze.

O-Ton Albrink: Ja, traurig, dass wir so viele Frauen

halt eben abweisen müssen, die anrufen, die in Not sind und die wir leider

nicht aufnehmen können, weil unser Haus aus allen Nähten platzt.

Autorin: Weihnachten macht da keine Ausnahme. Manche Frauen

versuchen zwar erst nach Weihnachten zu fliehen, weil sie selbst das „Heile

Familie-Bild“ im Kopf haben und den Kindern das Weihnachtsfest nicht verderben

wollen. Aber: Das Bild ist brüchig. Wird das gutgehen? Oder wird der Herr im

Haus wieder betrunken sein? Wird er wieder zuschlagen wegen irgendeiner Lappalie

und werden die Kinder sich unter dem Tisch verkriechen?

Wenn

es dann doch nicht klappt, über Weihnachten zu bleiben, wenn die Gewalt schon

vor Weihnachten so eskaliert, dass sie fliehen müssen und sie ins Frauenhaus

kommen, ist Weihnachten in Sicherheit oft das größte Geschenk – auch für die

Kinder.

O-Ton Albrink: Das ist auch unser oberstes Ziel, dass

die Frauen und Kinder halt eben ein Weihnachten erleben in Sicherheit und nicht

Angst haben müssen, was passiert jetzt gleich. Und für die Kinder ist es eben

viel, viel wichtiger, einen sicheren Ort im Frauenhaus zu haben, als das

vorgespielte schöne Weihnachten zuhause.

Autorin: So Daniela Albrink. Die Frauenhausmitarbeiterinnen

wissen um die Not der Frauen und um ihr schlechtes Gewissen und sie versuchen,

es den Frauen so schön wie möglich zu machen. Es wird geschmückt und gebastelt,

es werden Plätzchen gebacken und Geschichten erzählt, der Bürgermeister spendet

einen Weihnachtsbaum, und es gibt eine ganz besondere Geschenkaktion.

O-Ton Albrink: Bei uns ist es so, dass allgemein zur

Weihnachtszeit die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung auch eher höher ist

und … seit vielen Jahren gibt es schon die Aktion, dass die Kinder den

Wunschzettel ausgefüllt haben und dann gibt es einen Club von ganz engagierten

Frauen, die dann den Kindern eben ihre Wünsche erfüllen. Das ist eine sehr

schöne Aktion, ist auch wirklich noch mal was Besonderes, mit wie viel Herzblut

allein die Geschenke verpackt werden. Und das haben wir dann ausgeweitet, dass

die Frauen eben auch einen Wunschzettel ausfüllen können – nicht nur die Kinder

und dann werden eben auch die Frauen beschenkt mit ihren Wünschen.

Und das ist so besonders, dass oft auch Frauen sagen,

die ausgezogen sind: Weihnachten komme ich euch wieder besuchen. Das war so

toll: Zum ersten Mal hab ich was nur für mich bekommen- das, was ich mir

gewünscht habe – dass sich andere Menschen Gedanken gemacht haben und das so

schön verpackt haben, das kennen die Frauen manchmal gar nicht.

Autorin: Und dann feiern Frauen und Kinder mit

unterschiedlichen Geschichten, aus unterschiedlichen Nationen und Religionen

miteinander Weihnachten, Frauen und Kinder, die eines verbindet: der Wunsch

nach einem Leben in Sicherheit ohne Gewalt und Unterdrückung.

O-Ton Albrink: Und ich find’s immer schön, dass das

alles so gemischt wird. Also bei uns gibt es manchmal arabisches Essen oder die

Frauen kochen ganz besondere Sachen, die ich so nicht kenne, und das ist auch

für uns irgendwie so was ganz Besonderes.

Musik 2: Ya Mariam

Titel: Ya

Mariam; Text/Melodie: Traditional; Interpreten: Jazz.Ufermann/ Hayat Chaoui; Album:

59 Minuten Weihnachten, Label: Erhard Ufermann. Eigenproduktion.

Autorin: Auch wenn das erste Frauenhaus in Deutschland erst

1976 gegründet worden ist: Frauen, die Schutz suchen mussten und auf die

Solidarität anderer Frauen angewiesen waren, hat es zu allen Zeiten gegeben. So

eine Geschichte steht auch schon in der Bibel und sie gehört in die

Adventszeit. „Marias Besuch bei Elisabeth“ steht harmlos darüber. Maria wird

eher Zuflucht gesucht haben bei Elisabeth. Sie ist unverheiratet schwanger –

eine Katastrophe in jenen Zeiten. Gott hat ihr durch den Engel sagen lassen,

das Kind ist vom Heiligen Geist, und von dem Kind sei Großes zu erwarten. Das

ist tröstlich, macht die aktuelle Lage aber auch nicht besser.

Joseph,

ihr Verlobter, ist damals wahrscheinlich entsetzt. Er macht ihr zwar keine

wüste Szene und will sich eher heimlich von der Verlobung zurückziehen, aber

das alles in einem kleinen Dorf auf dem Land zur Zeitenwende: eine Katastrophe.

Maria

weiß nicht aus noch ein, so stelle ich mir vor. Hier in Nazareth kann sie nicht

bleiben. In der Not flüchtet sie zu ihrer Verwandten Elisabeth. Die kennt sie

als gut situierte lebensweise Frau. Da erhofft sie sich Solidarität statt Häme

und Zuflucht. Dort hofft sie zur Ruhe zu kommen. Elisabeth wird sie verstehen,

denn auch für sie ist es nicht so leicht gerade. Sie ist im hohen Alter noch

schwanger geworden, und auch da sind sich die Leute einig: „Das gehört sich

nicht!“

So

werden sich die beiden Frauen gegenseitig gestützt haben. Auch zwischen den

beiden Kindern, die jetzt noch ungeboren sind, wird es eine Verbindung geben.

Johannes wird der Sohn der Elisabeth heißen. Johannes, der Täufer. Er wird Jesus,

den Sohn der Maria, taufen und alle Hoffnung auf ihn setzen.

Musik: O Heiland

Titel:

O Heiland; Text/Melodie: Traditional; Interpreten: Jazz.Ufermann/Hayat Chaoui;

Album: 59 Minuten Weihnachten, Label: Erhard Ufermann. Eigenproduktion.

Autorin: Am Ende hören wir: Maria hat Schutz und Ruhe

gefunden bei Elisabeth drei Monate lang. Sie hat auftanken können. Maria hat im

Haus von Elisabeth Schutz und Verständnis gefunden, Ruhe vor dem Geschwätz der

Leute und den hämischen Blicken. Und Elisabeth hat ihr noch mehr gegeben:

Wertschätzung für ihre besondere Schwangerschaft. Allmählich findet sie zurück

zu ihrem aufrechten Gang. Sie kann stehen zu dem, was ist. Am Ende wird für sie

mehr möglich sein als Schutz und Sicherheit: Sie traut sich zu träumen von

einer gerechteren Welt. Von einer Welt, in der es mehr gibt als Zuflucht, in

der ihr Gerechtigkeit widerfährt, in der die Mächtigen vom Thron gestoßen

werden und die Erniedrigten wieder aufrecht gehen können. Maria hat dieser

Hoffnung in ihrem Lobgesang Ausdruck verliehen, in einem Lied, das als

Magnificat überliefert worden ist. Dietrich Bonhoeffer hat es das

Revolutionärste aller Adventslieder genannt.

In

der Übertragung der Theologin Dorothee Sölle hört sich das so an:

Sprecherin

A, 1:

Es

steht geschrieben, dass Maria sagte:

meine Seele erhebt den Herren und mein Geist freut sich Gottes meines Heilandes

denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen

siehe von nun an werden mich seligpreisen alle Kindeskinder

Sprecherin B,1: Heute sagen wir das so:

Meine

Seele sieht das Land der Freiheit

Und

mein Geist wird aus der Verängstigung herauskommen

Die

leeren Gesichter der Frauen werden mit Leben erfüllt

Und

wir werden Menschen werden, von Generationen vor uns, den Geopferten, erwartet.

Sprecherin A, 2: Es steht geschrieben, das Maria sagte:

Gott

übt Macht mit seinem Arm und zerstreut die Hochmütigen

Er

stößt die Gewaltigen von ihrem Thron und die Getretenen richtet er auf.

Sprecherin B,2: Heute sagen wir das so:

Wir

werden unsere Besitzer enteignen

und

über die, die das weibliche Wesen kennen, werden wir zu lachen kriegen

die

Herrschaft der Männchen über die Weibchen wird ein Ende nehmen

aus

Objekten werden Subjekte werden

sie

gewinnen ihr eigenes besseres Recht.

Musik 3: O little town of

Bethlehem

O little town of Bethlehem; Interpret: Nils

Landgren; Album: Christmas With My Friends II, Label: ACT Music + Vision GmbH

& Ko KG; LC: 07644

Autorin: Maria kehrt aufrechten Ganges nach Nazareth zurück,

wo Joseph – vom Heiligen Geist zur Vernunft gebracht – sie wieder freundlich

aufnimmt. Aber schon droht die nächste Gefahr: Despotische Regierungskräfte,

römische Besatzer befehlen: Maria muss ihren Heimatort wieder verlassen. Das

Volk soll gezählt werden, da wo es geboren ist. Also wieder Wanderschaft in der

Kälte, diesmal ist das Paar gemeinsam unterwegs nach Bethlehem.

Dort

wird das Kind zur Welt kommen – nicht im trauten Heim, aber immerhin in einem

heimeligen Stall. Vorübergehend Sicherheit. Noch einmal gibt es Anerkennung für

das Kind: Wieder sind Engel im Spiel – diese Boten Gottes, die immer dann

auftauchen, wenn es schwierig wird und außergewöhnliche Lösungen gefragt sind.

Dann

geht es aber schon wieder auf die Flucht, diesmal ins Ausland nach Ägypten,

denn schon droht dem Kind der Tod. Der rücksichtslose Machthaber Herodes hat

von den Weisen aus dem Morgenland vernommen, in Bethlehem sei der König der

Juden geboren worden. Kurzerhand hat er den Befehl gegeben, alle männlichen

Neugeborenen in Bethlehem umbringen zu lassen. Um seine Macht zu erhalten, ist

ihm jedes Mittel recht.

Musik 4: Bachelor

Titel:

Bachelor; Komposition/Interpret: Julian Wasserfuhr & Roman Wasserfuhr;

Album: Running; Label: ACT Music + Vision GmbH & Ko KG; LC: 07644

Autorin: So wie die Zuflucht im Frauenhaus für viele Frauen

tägliche Realität ist, ist es leider auch die Flucht von Frauen mit kleinen

Kindern aus der Heimat, in der Krieg ist – eine Realität, die wir eigentlich in

Europa überwunden glaubten.

Und

doch: Es will Weihnachten werden, und die Frauen und Kinder, die Schutz suchen

vor roher Gewalt und nicht zuhause sein können, sind auf unsere Solidarität

angewiesen. Das ist auch der Wunsch von Daniela Albrink aus dem Frauenhaus

Herford:

O-Ton Albrink: Ja, wichtig ist mir immer, Verständnis

für unsere Frauen aufzubringen. Die haben keine Schuld daran, dass sie bei uns

sind. Das sind keine schlechten Mütter, weil sie den Vätern die Kinder

wegnehmen, sondern das sind Frauen, die sich eben schützen wollen, die ein

Leben ohne Gewalt verbringen möchten.

Autorin: Das Gleiche gilt für die Frauen aus der Ukraine:

Lasst uns solidarisch helfen, dass diese Frauen und Kinder, die bei uns Schutz suchen,

zur Ruhe kommen können und Weihnachten feiern ohne Gewalt – in Sicherheit.

Vielleicht

auch in der Hoffnung, die Maria getragen hat, als sie bei ihrem Besuch bei

Elisabeth einen Lobgesang anstimmt – getragen von der Hoffnung, dass sich

Machtstrukturen ändern: dass die Mächtigen vom Thron

gestoßen werden und die Erniedrigten wieder aufrecht gehen können. Noch

einmal Dorothee Sölle:

Sprecherin A 3: Es steht geschrieben, dass Maria sagte:

Denn

er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist

Und

sein Name heilig ist

und

seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht.

Sprecherin B 3: Heute sagen wir das so:

Die

große Veränderung, die an uns und durch uns geschieht

Wird

allen geschehen oder sie bleibt aus.

Barmherzigkeit

wird geübt werden,

wenn

die Abhängigen das vertane Leben aufgeben können und lernen, selber zu leben.

Autorin: So wünsche ich Ihnen und uns allen den Shalom, den

Frieden Gottes, zu dem Solidarität gehört sowie Abwesenheit von Gewalt und

Unterdrückung. Es wünscht Ihnen den Frieden Gottes, der höher ist als alle

Vernunft, Sabine Haupt-Scherer von der evangelischen Kirche aus Bielefeld.

Musik 5: A Whiter Shade of Pale (feat. Nils

Landgren)

A Whiter Shade of Pale (feat. Nils Landgren);

Komposition: Gary Brooker & Keith Reid; Interpret: Magnus Lindgren; Album:

Stockholm Underground; Label: ACT Music + Vision GmbH & Ko KG; LC: 07644

Quellen: Dorothee Sölle zitiert nach: S. und H. K. Berg:

Warten, dass er kommt. 1986.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 18.12.2022
  • Sabine Haupt-Scherer
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