Wenn Gott will und wir leben

Kirche in WDR3 | 29.12.2021 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen!

„Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar“,

sagt die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann 1959. (1) Sie spricht von dem

großen, geheimen Schmerz, der den Menschen vor allen anderen Geschöpfen

auszeichnet. Und der zum Leben

dazugehört. Die Aufgabe der Schriftstellerinnen und Schriftsteller ist es,

diesen Schmerz ins Bewusstsein zu rufen, wahr zu machen. Damit die Menschen

sehend werden. Ingeborg Bachmann spricht vor blinden Menschen, Kriegsblinden.

Menschen, die Schmerz erlebt haben und erleben. Menschen, die mit dem Schmerz

leben müssen, nicht mehr sehen, nicht mehr mit ihren Augen lesen zu

können. Aber sie können hören. Und

verleihen Ingeborg Bachmann im Jahr 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. „Den

Menschen ist die Wahrheit zumutbar.“ Mir sind diese Worte wie ein Kommentar zu

manchem, was in der Bibel erzählt wird. Uns Menschen ist die Wahrheit zumutbar.

Der Schmerz muss nicht geleugnet, seine Spuren nicht weggewischt werden. Nichts

muss ablenken von der Zerbrechlichkeit des Lebens. In der Bibel lese ich: „Was

ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann

verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn Gott will, werden wir leben und

dies und das tun.“ (Jakobus 4,14f) Der Apostel Jakobus schreibt das in einem

Brief und wendet sich auch an Blinde, allerdings „Betriebsblinde“. Jakobus

spricht zu Menschen, die blind geworden sind durch den Betrieb, den sie machen.

„Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr

dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen.“ (Jakobus 4, 3) So

charakterisiert Jakobus die Mentalität der „Betriebsblinden“. Nichts wird dem

Zufall überlassen. Die Gewinnchancen sind kalkuliert. Das Geld ist gut

angelegt. Die Rendite ist berechnet. Die Ziele sind beschrieben und stehen klar

vor Augen. Für anderes ist man blind.

Auch ich fühle mich manchmal wie blind. Wenn mir bewusst wird, wie fragil mein

Leben ist, und wie ich das ausblende. Und selbst Bilder und Nachrichten, die Tag

für Tag die Zerbrechlichkeit des Lebens illustrieren, nehmen mir nicht die

Scheuklappen. Der Terrorismus, so lese ich in der Zeitung, sei neben der

unseligen Pandemie die größte globale Bedrohung. Ist er das tatsächlich? Ich

denke, Gewalt in jeder Form ist die größere, weltweite Bedrohung des Lebens.

Sei es körperliche, sei es seelische, sei es aktive Gewalt – bis in unsere

Familien und Nachbarschaften hinein. Gewalt ist auch, jemandem oder ganzen

Völkern etwas vorzuenthalten. Die Güter dieser Welt ungerecht zu verteilen, ist

Gewalt. Gewalt tun wir auch der Natur reichlich an.

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Gott spricht zu mir. Wahrheitsgemäß.

Er lässt mich die Wahrheit hören. Durch Briefe wie den von Jakobus. Durch

schmerzhafte Geschichten in der Bibel. Da wird nichts weggelacht. Nichts hinter

Bildern einer heilen Welt versteckt. Da werden mir keine falschen Hoffnungen

gemacht. Stattdessen sagt Gott: Mensch, Du lebst nicht im Paradies. Leid gehört

zum Leben wie Freude. Das Paradies ist woanders. Es wartet auf dich jenseits

des Schmerzes.

„Wenn Gott will und wir leben…“, sage ich manchmal am Telefon, wenn ich

Pläne mit Freunden fürs nächste Jahr mache. Wenn Gott will und ich lebe, werde

ich etwas von dem verwirklichen, was ich mir für das vor mir liegende Jahr

vorgenommen habe. Diese Wahrheit ist mir zumutbar. Mit ihr will, mit ihr kann

ich leben, jeden neuen Tag.

Einen guten Tag

wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Michael Opitz aus Düsseldorf.

Quelle:

(1) Ingeborg

Bachmann, Werke Band 4, München: Piper, 1978, S. 277.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57053_WDR3520211229Opitz.mp3

  • 29.12.2021
  • Michael Opitz
  • © CCO Pixabay
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