Gesehen werden

Kirche in WDR3 | 19.09.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen,

wir schlendern die

Haupt-Touristenmeile entlang, vorbei an den üblichen Souvenir-Ständen mit

Geschirrtüchern, Mützen, Stofftaschen, T-Shirts und Pullis mit Namen und Logo

des Urlaubsortes – was man halt so üblicherweise mitbringt. Da sitzt ein Mann

an der Nähmaschine und näht gerade auf eine Schürze den Namen Florian. Auf

Wunsch versieht er jedes Stoffteil mit dem individuellen Wunschnamen. Dadurch

bekommt jeder Artikel etwas Einmaliges. Er ist speziell auf einen Menschen

zuhause zugeschnitten. Ach guck, geht mir durch den Kopf, Souvenirs werden

offenbar immer individueller.

Der Name des Urlaubsortes auf

der Brust reicht nicht mehr. Nicht nur landestypisch soll es sein, das

Mitbringsel. Es soll auch sagen: Das hier haben wir ganz speziell für dich

ausgesucht. Umso wichtiger vielleicht, weil es immer schwieriger wird, etwas

Besonderes oder Einmaliges zu finden. Und: Zuhause sind wir ja auch ganz

individuell unterwegs: Manche absolvieren ihr ganz individuelles

Fitnessprogramm oder Work out, vielleicht sogar mit Personaltrainer. Mein

kleines privates Auto lässt sich in Farben und Inventar individuell konfigurieren.

Nur wenige dieser Marke sehen gleich aus. Es gibt Restaurants, in denen ich mir

mein Essen selbst zusammenstelle: Welche Pasta und welche Sauce ich möchte.

Oder welche Zutaten in meinen Salat sollen. Wir alle sind ganz individuell

unterwegs, haben unseren eigenen Geschmack. Wir möchten zeigen, was uns

einzigartig macht, uns abheben aus der Menge. Gesehen werden mit dem, was uns

ausmacht. Und vor allem auch: Das tun und lassen, was passgenau für uns ist.

Das wird durch all die Angebote bedient und ist auch in Ordnung. Solange es

auch noch Gemeinsamkeiten gibt oder wir uns noch auf Kompromisse verständigen

können.

Nur: Die Bereitschaft dazu

nimmt nach meiner Wahrnehmung ab. Wie lange es manchmal dauert, bis man sich

geeinigt hat, wo man etwas zu essen bestellt: beim Italiener, Chinesen,

Burger-Laden oder im veganen Restaurant. Ohne Kompromiss bleiben die Teller

leer. Ich denke manchmal, als Christin dürfte mir das doch gar nicht

schwerfallen. Ich kann mich doch darauf verlassen: Gott sieht mich, ganz speziell

mich in meiner Individualität. „Du bist ein Gott, der mich anschaut. Du bist

die Liebe, die Würde gibt. Du bist ein Gott, der mich achtet. Du bist die

Mutter, die liebt,“(1), singen wir in der Kirche mit Hagar. Das ist eine Frau

aus der Bibel, die sich als Magd von Ihrer Herrschaft nicht anerkannt und

gesehen fühlt.

Weil ich mich von Gott

geliebt weiß, bin ich nicht darauf angewiesen, von anderen Menschen

wahrgenommen zu werden oder meine Bedürfnisse und Interessen immer eins zu eins

umsetzen zu können. Ich kann auch mal mit anderen einen Kompromiss eingehen

oder damit gemeinsam etwas geht, persönlich zurückstecken.

Oder es kann mir wichtiger

sein, dass wir überhaupt zusammen wegfahren, als dass es genau zu meinem

Lieblingsziel geht. Oder es macht mir so viel Spaß zusammen zu kochen und zu essen,

dass ich auch mal was Anderes esse als sonst. Gemeinsam etwas auf die Beine

stellen – in einem Verein, einer Partei oder in einer Gemeinde – das macht so

viel Freude. Auch dann, wenn nicht meine Herzensidee umgesetzt wird.

Auch Ihnen viel Freude bei

solchen gemeinsamen Aktionen wünscht

Barbara Schwahn, Krefeld.

(1) Du bist ein Gott, der

mich anschaut, Freitöne, DEKT 2017, S. 4, Refrain.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/59198_WDR3520220919SchwahnNEU.mp3

  • 19.9.2022
  • Dr. Barbara Schwahn
  • © Willian Justen de Vasconcellos on Unsplash
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