
Guten Morgen.
Sie hat den 2. Weltkrieg erlebt. Da ist sie noch ein Kind. Doch das ist
lange her. Wir sitzen bei einer Geburtstagsfeier ihrer Enkelin zusammen. Wir
reden. Über unser Leben. Hier und jetzt. Und was uns zufrieden macht im Leben.
„Ich brauche nichts Großes,“ sagt sie. „Keinen Luxus, keine Reisen. Ich
schaffe es, jeden Tag etwas aus meinem Alltag herauszuziehen, das mir Freude
macht. Ob es das Buch ist, das auf mich wartet, wenn ich am Nachmittag ein
bisschen lese. Oder die Serie, die ich gucke. Oder ich freue mich, dass ich
morgens wieder aufgewacht bin. Oder wenn ich meine Runde draußen mache und
jemanden treffe, mit dem ich plaudern kann.“
Gerda ist 90. Kleiner ist sie geworden, seit ich sie das letzte Mal
gesehen habe. Gerade mal noch ein Meter fünfzig, denke ich. „Vielleicht ist es
das, dass ich immer gerne gelebt habe und immer noch sehr gerne lebe“, sagt
sie.
Ich brauche nichts Großes. Gerne leben. So klingt es in mir nach, jetzt
zwischen den Nachrichten vom Krieg in der Ukraine, von Bürgerkriegen, Korruption,
Terrorgefahren. Gerda macht aus dem Kleinsten Großes. Sie kann genießen, was
ihr im Leben an Gutem begegnet. Und teilt davon noch aus: Ihre Zufriedenheit
und ihr Humor stecken an. Gerda tanzt für ihr Leben gern. Ihr Haus ist offen
für Gäste. Sie liebt es, andere zu bekochen und um sich zu haben. Das alles
sind Dinge, die ihr einfallen, wenn sie zurückschaut. Nicht das Schwere, das
Unaushaltbare. Nicht der Krieg und die Flucht. Nicht die Zeit danach, die Armut
und der Wiederaufbau. Was am Ende ihres langen Lebens zählt, ist etwas anderes.
Leben. Einfach leben.
Aus dem kleinen Samen und aus der kleinen Eizelle wächst es heran das
Leben und wird groß und größer. Und es freut sich seines Lebens. Singt und
springt. Lacht und tanzt. Lässt Seifenblasen fliegen und putzt kleine
Rotznasen. Sportelt und lernt. Schneidet die Rosen und feiert einen beruflichen
Erfolg. Betrauert, was verloren ist und bietet dem Unglück die Stirn. Tanzt bis
zum Morgengrauen und teilt die Freude aus. Im Bratapfel an einem kalten Wintertag
und im Käsebrot für die Schule. Mit Knowhow und Teamgeist im Beruf. Mit einem
Anruf: „Sag, wie geht es Dir?“ oder mit einem kleinen Spaziergang zum Plaudern.
Mit einer WhatsApp an die Freundin.
Klein, aber oho. Diese Liebe zum Leben, das ist der Himmel auf Erden.
Nicht immer stärker als Bomben und Granaten. Aber doch größer. Und weiter.
Jesus erzählt: Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch
nimmt und in seinen Garten sät. Es ist das Kleinste unter allen Samenkörnern.
Wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein
Baum. Und die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.
(Matthäus 13,31f)
Manche tragen so ein Senfkorn in einem Medaillon an einer Halskette.
Andere, wie Gerda, erzählen davon.
Das Senfkorn erinnert immer wieder daran: Das Kleine genießen. Das, was
ich habe, ausstreuen und teilen, ganz gleich wie viele Samen es sind oder wie
groß sie sind. Gerne leben. Sich selbst und die anderen mit Gutem bewirten und
nähren. Mit gutem Essen und guten Gedanken. Das allein zählt. Diese Saat
geht auf. Schlägt Wurzeln und lässt Bäume wachsen. Mit Stämmen, an die man sich
anlehnen kann. Die Haltlosen finden unter den Kronen solcher Bäume einen Platz
um zu Rasten. Die Ängstlichen Zuversicht. Und die Geflüchteten Schutz und
Zuflucht.
Zwischen den Jahren ein bisschen Zeit, dem einfach mal nachzuspüren –
was zählt in meinem Leben? Die wünscht Ihnen, Petra Schulze aus Düsseldorf.
Erzählt nach: „Leben. Einfach leben“ von Petra Schulze, in: Üben!
Sieben Wochen ohne Stillstand, hg. v. Susanne Breit-Keßler, Frankfurt: edition
chrismon, 2021, S. 92f.
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