Die leise Stimme der Neujahrsnacht

Kirche in WDR3 | 01.01.2022 | 00:00 Uhr

Einen

guten Neujahrsmorgen!

Um Mitternacht haben – wie in jedem Jahr – die

Glocken geläutet. Die Freunde treten ans

Fenster und schauen in die Nacht. „Prost Neujahr!“ ruft eine Stimme von der

Straße herauf, und die am Fenster stehen, geben Antwort: „Prost Neujahr!“ Sie

sind eine kleine Gesellschaft. Irgendwo in einem Ort auf dem Land haben sie

sich in der Wohnung eines Freundes zusammengefunden. Kurz vor Mitternacht

schießt der Korken aus der Flasche, alle stoßen an und begrüßen das neue Jahr.

Sie sind fröhlich – und wissen eigentlich gar nicht, warum. Aber das ist so:

Silvester ist man fröhlich und laut und lärmend.

In diesem Jahr ist

es allerdings anders. Kein Feuerwerk, keine Knallfrösche. Böllerverbot. So wie

auch schon im Jahr zuvor. Koch ist das ganz recht so. Die ungewohnte Stille hat

etwas Beruhigendes. Und es gilt in Pandemiezeiten, die überlasteten Krankenhäuser

vor zusätzlicher Inanspruchnahme durch Verletzte zu schützen. Gegen zwei Uhr

gibt es Kaffee, der sie auffrischen oder nüchtern machen soll, je nach Zustand.

Dann, um halb drei sind alle müde und beschließen, die Feier zu beenden.

Gähnend stehen sie auf. „Entschuldigung“, sagen sie zu dem Freund, „es war

herrlich bei dir – aber jetzt sind wir bettreif.“

Koch hat den weitesten Weg, er wohnt im Nachbarort und muss durch den Wald und

über den Berg gehen. Er fühlt sich wohl, als er draußen in der frischen Luft

ist und allein. Als er losgeht, sieht er vor sich den Berg. Der Berg liegt

zwischen ihm und dem neuen Tag. Über ihm blinken die Sterne, und er denkt

daran, dass ebenso wie die Sterne im Weltenraum ihre Bahn ziehen, nicht anders

die Erde ihre Bahn zieht. Jetzt, so scheint es ihm, dreht sie sich dem neuen

Jahr entgegen. Dort, hinter dem Berg, steigt nun das neue Jahr herauf. Wenn

über Koch der Große Wagen fast senkrecht steht, ist es da: Das Sternbild wird

verblassen, die Dämmerung beginnen, und dann ist es Tag. Langsam wandert Koch

die Landstraße dahin. Jetzt beginnt der Wald. Er hört einen Hahn krähen und das

Gebell eines Hundes. Dann ist es wieder still und er hört nur den Hall seiner

Schritte. Fünfhundert Kilometer, denkt er, so hoch soll die Lufthülle der Erde

sein. Dahinter beginnt schon der unendliche Raum. Und wir fahren in ihm. Die

Erde. Wir. Plötzlich hört er eine leise Musik, wie eine zart gezupfte Gitarre.

Oder wie eine schüchtern flüsternde Stimme, die etwas zu sagen hat, aber nicht viel

Aufhebens davon machen möchte. Schließlich ist ihm klar: Es ist der Bach, der

vom Berg herab neben der Landstraße entlangfließt. Koch geht der Musik nach,

tritt an den Straßenrand und hört zu. Er sieht nichts als Dunkelheit, und über

ihm ist allein das Licht der Sterne. Es tut Koch gut, nach dem Sekt und all der

überspitzten Fröhlichkeit des gestrigen Abends nun diese leise Stimme zu hören.

Und zuzuhören, was sie zu sagen hat. Und wenn vorhin, unter den Freunden, einer

gefragt hätte: Was mag wohl dieses Jahr uns bringen? – dann weiß er jetzt die

Antwort: das Leben. Worüber hatte die Pfarrerin gestern im

Silvestergottesdienst gepredigt: „Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir,

Gott, ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich.“ (Psalm 11,16)

Als Koch weitergeht,

fühlt er bewusst seinen festen Schritt. Gleichmäßig atmet er tief ein und aus –

und ihm ist froh zumute, während er den Berg gelassen hinaufsteigt.

Gute erste Schritte ins neue Jahr wünsche ich Ihnen!

Ihr Pfarrer Michael

Opitz aus Düsseldorf.

Redaktion: Landespfarrerin

Petra Schulze

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  • 1.1.2022
  • Michael Opitz
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