Erinnerung

Kirche in WDR3 | 18.06.2022 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen.

Ich

bin erleichtert und freue mich. Sie hat mich erkannt. Sie scheint noch kleiner

und schmaler geworden zu sein, wie sie so in ihrem Bett im Zimmer des

Altenheims liegt. Aber ihre Augen leuchten und sie lächelt, als sie mich

erkennt. Nach zwei Schlaganfällen ist sie nun hier. Ihre Familie kümmert sich

liebevoll um sie, aber in ihren eigenen vier Wänden konnte sie nicht mehr

bleiben. Wir kennen uns seit über 20 Jahren, haben manches miteinander erlebt

und ich fühle mich ihr sehr verbunden. In diesem Jahr wird sie 88. Durch die

Schlaganfälle ist auch ihr Gedächtnis betroffen – das weiß sie sehr genau, als

sie traurig lacht und sagt: „Wenn Sie mir jetzt etwas erzählen, Frau Krumbach,

ist alles klar; aber heute Nachmittag habe ich es wieder vergessen.“ Wir unterhalten

uns darüber, wie es ihr jetzt geht, über vergangene Erlebnisse und über ihre

Familie – einiges davon weiß sie, anderes nicht. Im Lauf unseres Gespräches

sage ich zu ihr: „Ich habe Sie immer dafür bewundert, dass Sie nichts auf die

lange Bank geschoben haben. Dass Sie trotz Ihrer Herzerkrankung regelmäßig

Urlaub mit Ihrer Freundin gemacht haben, dass Sie mit der Kirchengemeinde

unterwegs waren und so manches Fest gefeiert haben. Sie haben so viel Schönes

erlebt. Das kann Ihnen niemand mehr nehmen.“ – Da blickt sie mich wehmütig an

und sagt leise: „Ja, aber was nützt mir das, wenn ich mich nicht mehr daran

erinnere?“

Ihre

Worte machen mich betroffen, und wir schweigen eine Weile, bevor wir das

Gespräch wieder aufnehmen.

Nach

meinem Besuch denke ich über ihren Satz nach: „Was nützt mir das, wenn ich mich

nicht mehr daran erinnere.“ Wie leicht

sagen wir das: „Die Erinnerungen kann uns niemand nehmen.“? Die Erinnerung an

eigene Erlebnisse oder die Erinnerung an geliebte Menschen, die gestorben sind.

Wie oft lese ich unter einer Traueranzeige die Worte: „In unserer Erinnerung lebst

du weiter“. Natürlich, viele Erinnerungen bleiben eine lange Zeit lebendig,

aber sie können auch verblassen oder sogar gänzlich verschwinden. Ausgelöscht

aus dem Gedächtnis, als hätte es sie nie gegeben.

Im

letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, sind die Worte Jesu

Christi zu lesen: „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der

Anfang und das Ende.“ (Die Bibel, Offenbarung 22,13) Das bedeutet für mich,

dass Jesus Christus alles umfasst: die gesamte Schöpfung, die Dimension der

Zeit und sogar jedes einzelne Menschenleben. Von A-Z hat er alles im Blick, vom

Kleinen bis zum Unendlichen. Er weiß um alles, was geschehen ist, Schönes wie

Trauriges, Gutes wie Schlechtes. Bei ihm gerät nichts in Vergessenheit oder

geht verloren. Bei ihm ist alles aufgehoben – auch das, was wir längst

vergessen haben. So unvorstellbar dieser Gedanke ist, so tröstlich finde ich

ihn.

Einige

Tage später treffe ich sie im Dorf. Ihre Tochter schiebt sie im Rollstuhl und beide

genießen das schöne Wetter. Auch diesmal erkennt sie mich sofort. Wir unterhalten

uns einige Minuten.

Ob

sie sich an unser letztes Gespräch erinnert, weiß ich nicht. Aber das ist auch

nicht so wichtig. Jesus Christus ist der Anfang und das Ende – bei ihm ist

alles aufgehoben.

Gott

befohlen! Ihre Johanna Krumbach, Pfarrerin in Augustdorf.

Redaktion:

Landespfarrerin

Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58331_WDR3520220618Krumbach.mp3

  • 18.6.2022
  • Johanna Krumbach
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