„Falsch verstandene Kameradschaft innerhalb der Polizei kann zu großen Problemen führen“

Es sei eine „Vitaminkur für die demokratischen Abwehrkräfte“: Anfang September hat NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) den Abschlussbericht der Stabsstelle „Rechtsextremistische Tendenzen in der Polizei Nordrhein-Westfalen“ vorgelegt – ein Jahr nach dem Bekanntwerden rechter Chatgruppen innerhalb der Polizei. Der Bericht unter Federführung des früheren stellvertretenden Leiters des Verfassungsschutzes, Uwe Reichel-Offermann, gibt 18 Handlungsempfehlungen zur Stärkung der demokratischen Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Eine besondere Rolle bei der Erstellung des Berichts übernahm die Polizeiseelsorge. Der Leitende Landespfarrer Dietrich Bredt-Dehnen über Alltagsreflexionen, Pauschalurteile und die Grenze zwischen Verlässlichkeit und falscher Kameradschaft.


Herr Bredt-Dehnen, ein ganzes Kapitel des Berichts widmet sich dem Pilotprojekt „Alltagsreflexionen“, bei dem auch die Polizeiseelsorge eingebunden war. Was verbirgt sich dahinter?
Dietrich Bredt-Dehnen:
Schon bevor die Chatgruppen bekannt wurden, war darüber diskutiert worden, wie es zu rechtsextremistischen Tendenzen innerhalb der Sicherheitsbehörden und speziell der Polizei kommen kann, bis hin zu regelrechten Nazi-Netzwerken. Die waren aber in NRW nicht das Problem. Die sehr tiefgehenden Untersuchungen haben gezeigt, dass man nur ganz wenigen beteiligten Beamtinnen und Beamten ein geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild nachweisen kann. Bei den anderen geht es um eine Ebene darunter: um diskriminierendes Verhalten im Alltag, ohne zu spüren, wo die Grenzen sind zwischen gelegentlichem frustbedingten Ablästern und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. In der Polizei gibt es viele Menschen, die von sich selbst sagen, dass sie aufgrund ihrer täglichen Erfahrungen auf einmal Denkmuster entwickeln, in die sie sich eigentlich gar nicht verstricken möchten.

Hat das mit dem verengten Blick des Polizeialltags zu tun?
Bredt-Dehnen:
Untersuchungen zeigen, dass junge Kommissarsanwärterinnen und -anwärter bei Eintritt in die Ausbildung über ein wirklich gefestigtes demokratisches Weltbild verfügen, das dann in den ersten drei Dienstjahren nach der Ausbildung stark unter Druck gerät. Aufgrund dieser Erfahrung haben wir gesagt, wir müssen unbedingt Menschen in der Polizei eine Möglichkeit geben, sich über ihren Dienst auszutauschen.

Warum gibt es diese Möglichkeiten nicht längst?
Bredt-Dehnen:
In den vergangenen Jahrzehnten ist es immer stärker dazu gekommen, dass Polizisten und Polizistinnen unglaublich funktional eingesetzt werden. Die früheren Dienstgruppen, in denen auch Freundschaften entstanden und die so einen Austausch nach Dienstschluss ermöglichten, sind in größeren Behörden häufig in Pools aufgelöst worden. Man kennt sich nicht mehr unbedingt näher und es gibt kaum noch Möglichkeiten gemeinsamer Reflexion. Den jungen Kommissarsanwärtern wird unter anderem durch die Polizeiseelsorge bereits zu Beginn, in der Mitte und am Ende ihrer Ausbildung verpflichtend eine Berufsrollenreflexion angeboten, was nichts anderes ist als eine Alltagsreflexion, bei der sie über ihre Erfahrungen im Dienst sprechen. Zu den Handlungsempfehlungen des Abschlussberichts zählt auch, dieses Angebot auf die ersten drei Dienstjahre nach dem Studienabschluss auszuweiten und einmal jährlich zu ermöglichen.

Welchen Umfang haben diese Alltagsreflexionen im vergangenen Jahr mit Blick auf den Abschlussbericht eingenommen?
Bredt-Dehnen:
An den Gesprächen im Frühjahr und Sommer waren 14 Polizeibehörden und knapp 400 Personen beteiligt. Diese Pilotprojekte haben die unterschiedlichen Bereiche der Polizeiarbeit abgebildet und wurden vor allem von Polizeiseelsorgerinnen und -seelsorgern moderiert. Wir hatten große Sorge, dass das als eine Art Ethikcheck wahrgenommen wird, aber diesen Eindruck konnten wir schnell geraderücken, sodass die Rückmeldungen am Ende sehr positiv ausfielen.

Wo liegen denn die Gefahren, aus den Alltagserfahrungen heraus in Pauschalurteile abzudriften?
Bredt-Dehnen:
Ein Problem ist, dass die Polizei grundsätzlich mit den 20 Prozent der Bevölkerung zu tun hat, die auf unterschiedlichste Weise mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Wenn man aber nicht reflektiert, dass man sich in einem sehr kleinen Segment von Alltagserfahrung bewegt, kann es sehr schnell dazu kommen, in Kategorien von „Das sind die Bösen“ und „Wir sind die Guten“ zu denken. Daraus kann sich dann die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickeln, von der ich gerade sprach. Es gibt in der Polizeiarbeit auch Bereiche, in denen man immer wieder mit einer ähnlichen Bevölkerungsgruppe zu tun hat: Jugendlichen und jungen Erwachsenen, meist Männern, in vielen Gegenden auch mit Migrationshintergrund. Und dann wird überhaupt nicht mehr differenziert.

Auch, weil man mit den Gegebenheiten vor Ort vielleicht nicht wirklich vertraut ist?
Bredt-Dehnen:
Ich finde es großartig, dass in die Handlungsempfehlungen auch die Anregung aufgenommen wurde, Veranstaltungsformate zu entwickeln, um den Polizistinnen und Polizisten zu vermitteln, was für Menschen eigentlich in dem Viertel leben, in dem sie unterwegs sind, und welche Sicht diese Menschen auf ihren Stadtteil haben. Das Blasendenken muss aufgebrochen werden, um eine breitere Möglichkeit zu haben, Wirklichkeit wahrzunehmen.

Ist der Korpsgeist innerhalb der Polizei nicht auch Teil des Problems?
Bredt-Dehnen:
Falsch verstandene Kameradschaft kann in manchen Bereichen zu großen Problemen führen. Auf der einen Seite ist Polizei eine Gefahrengemeinschaft, in der sich alle im Team aufeinander verlassen können und müssen. Die Kunst ist, die Grenze zwischen einer entscheidend wichtigen Verlässlichkeit und einer falsch verstandenen Kameradschaft einzuhalten. Dieser falsche Korpsgeist beginnt da, wo Polizisten bewusst oder unbewusst gegen die Menschenwürde verstoßen. Das kann man nur aufbrechen, wenn es eine Sprachfähigkeit gibt, solche Vorfälle zu reflektieren. In meiner Gruppe saßen junge Polizistinnen und Polizisten, die gesagt haben, wir finden das so gut, dass wir hier im geschützten Rahmen darüber reden können, weil wir das unter uns eher nicht machen.

Erhöhen die wachsenden gesellschaftlichen Ansprüche an sensiblen Sprachumgang den Druck?
Bredt-Dehnen:
Vielen ist gar nicht mehr bewusst, dass jahrelang intern verwendete Begriffe überhaupt einen rassistischen oder diskriminierenden Hintergrund haben könnten. Es kommt gerade darauf an, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Sprache auch Wirklichkeit formt, ohne dabei gleich als Sprachpolizei unterwegs zu sein. Dann kann in einer geschlossenen Gruppe auch mal eine Formulierung gewählt werden, die nicht veröffentlichungsreif ist. Denn das geschieht in jeder Berufsgruppe.

Ist die Verstetigung dieser Alltagsreflexionen ein neues Betätigungsfeld der Polizeiseelsorge?
Bredt-Dehnen:
Ziel ist tatsächlich, diese Reflexionen allen Polizistinnen und Polizisten einmal jährlich anzubieten. Aber das wird in den ersten Jahren nicht komplett durchsetzbar sein, sondern man muss zunächst mit einem ausgewählten Bereich anfangen. Die Polizeiseelsorge ist allein nicht in der Lage, diesen Bedarf zu decken. Dazu müssen zusätzliche psychosoziale Fachkräfte eingestellt werden. Wir als Seelsorgerinnen und Seelsorger bringen allerdings das besondere Merkmal mit, nicht in die Hierarchie eingebunden zu sein. Wir sind nicht berichtspflichtig, unterliegen der Verschwiegenheitspflicht und haben ein Zeugnisverweigerungsrecht.

Was kann Polizeiseelsorge künftig zur Extremismusprävention beitragen?
Bredt-Dehnen:
Wir sind in der Ausbildung zum Beispiel auch im Bereich Berufsethik aktiv. Und der Anteil der Berufsethik und weiterer „weicher“ Fächer soll verstärkt und auch prüfungsrelevant werden. Unsere Möglichkeiten sind zwar begrenzt, aber innerhalb dieser Möglichkeiten, zu denen auch die Alltagsbegleitung gehört, können wir immer wieder dafür sorgen, Dinge infrage zu stellen, ohne als moralische Besserwisser und Kontrolleure daherzukommen. Unser Ansatz ist ohnehin immer zu sagen, wo auch wir selbst so unterwegs sind, ohne dass wir es wollen und merken. Die allergrößte Mehrheit der Polizei ist damit gut erreichbar.

  • 30.9.2021
  • Ekkehard Rüger
  • Daniel Schmitt