Geschafft

Kirche in WDR2 | 18.12.2021 | 00:00 Uhr

„Endlich,

sagt er, jetzt habe ich es bald geschafft.“ „Was geschafft?“, frage ich.

„Weihnachten.“, sagt er. „Eine Woche noch.“ „Warum?“, sage ich. „Weihnachten

ist doch super.“ „Ja“, sagt er. „An sich schon. Aber das Drumherum. Meine

Familie steht da voll drauf: Überall kleine Engelchen. Schäfchen und Sternchen.

Alles zuckersüß.“ „Naja“, sage ich. „Meine Frau hat sich ein neues

Weihnachtsalbum gekauft.“, Sagt er. „Von Billy Idol. Ich freu mich zuerst – der

war mal ein cooler Rocker. Und jetzt singt er ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘.

Stell dir das mal vor!“ Er schüttelt den Kopf. „Und dann erst diese Film. Ich

habe mir den kleinen Lord ansehen müssen. Wie dieser kleine Junge mit seinen

großen Augen das Herz seines eiskalten Großvaters erweicht. Letzte Woche haben

wir die Weihnachtsgeschichte von Dickens gesehen. Wo aus einem

menschenfeindlichen Geizhals plötzlich

an Weihnachten ein herzlicher Wohltäter wird. Überall dieses süßliche ‚wir

haben uns doch alle lieb‘. Alle halten zusammen. Einer hilft dem anderen. Im

Radio, im Fernsehen. In der Zeitung. Und auch bei mir im Wohnzimmer.“, sagt er.

„Ich halte das nicht mehr aus! Das ganze Jahr über geht es gegeneinander. Jeder

ist für sich, jeder denkt nur an sich. Und es wird gelästert und geschimpft – über

Familie und Nachbarn, Freunde und Kolleginnen. Einer gönnt dem anderen nichts

Gutes. Und dann – ein paar Wochen vor Jahresende – reden alle nur noch von

Liebe und Familie und Teilen und füreinander da sein. Und die Englein singen:

‚Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen‘. Ist das nicht alles bloß

eine große Heuchelei? Ich halte das nicht mehr aus.“, sagt er. „Naja“, sage

ich. „Es sind ja nur noch ein paar Tage. Dann ist Weihnachten wieder vorbei. Und

dann hast du all das endlich wieder zurück: den Streit, das Lästern, den Neid, die

Eifersucht.

Die Missgunst. Dann ist endlich wieder

jeder für sich und keiner denkt an den anderen. Dann ist es endlich wieder

normal.“ „Naja“, sagt er. „So hab ich das jetzt auch nicht gemeint.“ „Weißt du

was?“, sage ich, „vielleicht ist es ja anders herum: Vielleicht sehnen sich die

Leute das ganze Jahr über nach alldem: Nach Frieden, Gemeinschaft, Familie.

Aber sie verdrängen diese Sehnsucht. Packen sie unter einen großen Haufen

Alltag. Und vergessen sie da. Aber dann kommen einmal im Jahr die Engel und

rufen: ‚Frieden auf Erden‘. Und plötzlich erinnern sie sich. Und dann kommt zum

Vorschein, was die restlichen elf Monate versteckt gewesen ist. Das ist dann vielleicht im Moment ein

bisschen viel. Vor allem im Kontrast. Aber: Vielleicht haben wir gar nicht im

Dezember zu viel ‚Frieden auf Erden‘. Sondern im Rest des Jahres einfach zu

wenig.“ „Hm.“, sagt er. Denkt nach. Und meint nach einer Weile: „Vielleicht

schauen wir uns im nächsten Jahr den kleinen Lord ja mal im Sommer an. Damit

der Frieden ein bisschen besser über‘s Jahr verteilt ist.“ Ich grinse. Aber ich

bin mir nicht sicher, ob es ein Scherz war.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 18.12.2021
  • Thomas Schrödter
  • © CCO Pixabay
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