„Endlich,
sagt er, jetzt habe ich es bald geschafft.“ „Was geschafft?“, frage ich.
„Weihnachten.“, sagt er. „Eine Woche noch.“ „Warum?“, sage ich. „Weihnachten
ist doch super.“ „Ja“, sagt er. „An sich schon. Aber das Drumherum. Meine
Familie steht da voll drauf: Überall kleine Engelchen. Schäfchen und Sternchen.
Alles zuckersüß.“ „Naja“, sage ich. „Meine Frau hat sich ein neues
Weihnachtsalbum gekauft.“, Sagt er. „Von Billy Idol. Ich freu mich zuerst – der
war mal ein cooler Rocker. Und jetzt singt er ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘.
Stell dir das mal vor!“ Er schüttelt den Kopf. „Und dann erst diese Film. Ich
habe mir den kleinen Lord ansehen müssen. Wie dieser kleine Junge mit seinen
großen Augen das Herz seines eiskalten Großvaters erweicht. Letzte Woche haben
wir die Weihnachtsgeschichte von Dickens gesehen. Wo aus einem
menschenfeindlichen Geizhals plötzlich
an Weihnachten ein herzlicher Wohltäter wird. Überall dieses süßliche ‚wir
haben uns doch alle lieb‘. Alle halten zusammen. Einer hilft dem anderen. Im
Radio, im Fernsehen. In der Zeitung. Und auch bei mir im Wohnzimmer.“, sagt er.
„Ich halte das nicht mehr aus! Das ganze Jahr über geht es gegeneinander. Jeder
ist für sich, jeder denkt nur an sich. Und es wird gelästert und geschimpft – über
Familie und Nachbarn, Freunde und Kolleginnen. Einer gönnt dem anderen nichts
Gutes. Und dann – ein paar Wochen vor Jahresende – reden alle nur noch von
Liebe und Familie und Teilen und füreinander da sein. Und die Englein singen:
‚Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen‘. Ist das nicht alles bloß
eine große Heuchelei? Ich halte das nicht mehr aus.“, sagt er. „Naja“, sage
ich. „Es sind ja nur noch ein paar Tage. Dann ist Weihnachten wieder vorbei. Und
dann hast du all das endlich wieder zurück: den Streit, das Lästern, den Neid, die
Eifersucht.
Die Missgunst. Dann ist endlich wieder
jeder für sich und keiner denkt an den anderen. Dann ist es endlich wieder
normal.“ „Naja“, sagt er. „So hab ich das jetzt auch nicht gemeint.“ „Weißt du
was?“, sage ich, „vielleicht ist es ja anders herum: Vielleicht sehnen sich die
Leute das ganze Jahr über nach alldem: Nach Frieden, Gemeinschaft, Familie.
Aber sie verdrängen diese Sehnsucht. Packen sie unter einen großen Haufen
Alltag. Und vergessen sie da. Aber dann kommen einmal im Jahr die Engel und
rufen: ‚Frieden auf Erden‘. Und plötzlich erinnern sie sich. Und dann kommt zum
Vorschein, was die restlichen elf Monate versteckt gewesen ist. Das ist dann vielleicht im Moment ein
bisschen viel. Vor allem im Kontrast. Aber: Vielleicht haben wir gar nicht im
Dezember zu viel ‚Frieden auf Erden‘. Sondern im Rest des Jahres einfach zu
wenig.“ „Hm.“, sagt er. Denkt nach. Und meint nach einer Weile: „Vielleicht
schauen wir uns im nächsten Jahr den kleinen Lord ja mal im Sommer an. Damit
der Frieden ein bisschen besser über‘s Jahr verteilt ist.“ Ich grinse. Aber ich
bin mir nicht sicher, ob es ein Scherz war.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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