Carsten

Kirche in WDR2 | 26.01.2023 | 00:00 Uhr

Ich weiß auch nicht. Irgendwie

ist Carsten so anders heute. So freundlich. Carsten ist normalerweise einer von

denen, bei denen man schon beim „Guten Morgen!“ sagen das Gefühl hat, man muss

sich entschuldigen. Ein Morgenmuffel der ersten Güte. Vor dem dritten Kaffee

ungenießbar. Heute nicht. Er lächelt, witzelt. „Carsten, was ist los? Du hast

aber gute Laune heute Morgen.“ Ja, sagt er, heute ist irgendwie mein Tag. Das hat

heute ganz früh beim Bäcker schon angefangen. Die haben eine neue Verkäuferin“,

sagt er, „eine ganz nette. Die hat so gestrahlt, früh am Morgen schon. Und das ist

irgendwie auf mich übergegangen“. Sagt er. „Aha“, sage ich. Und freue mich. Für

ihn. Und für uns. Und ich bin der netten Frau in der Bäckerei dankbar. Denn

Carsten lächelt sich heute durch den Tag.

Hoffentlich hat sie morgen

wieder Dienst. So kann das manchmal gehen: Ein kleines Lächeln am Morgen

verändert einen ganzen Tag. Macht irgendwie alles besser. Und nicht nur für

einen Menschen allein. Es breitet sich aus. Von der Verkäuferin zu Carsten. Von

Carsten zu den Leuten im Büro. Und wenn die dann später nach Hause gehen, sind

sie bestimmt viel weniger genervt. Weil Carsten einfach weniger gemeckert hat

als üblich. Und das freut auch die Familien, die Nachbarn. Man kennt die Idee

vom "Schmetterlingseffekt". Die sagt: Durch den Flügelschlag eines

Schmetterlings kann durch eine ungeordnete Reihe von Verkettungen und

Beeinflussungen am anderen Ende der Welt ein Orkan entstehen. Seit heute Morgen

bin ich mir ziemlich sicher, dass das auch für Nettigkeiten gilt. Da steckt

viel Kraft in einem Lächeln. Und es reicht weiter, als man annimmt. „Seid auf

Gutes bedacht gegenüber jedermann.”, (Röm 12,17) sagt die Bibel. Das könnte

doch eine Art Herausforderung sein: Den kleinen Schmetterlingsflügelschlägen

unserer Freundlichkeit mehr zutrauen. Lächeln, rücksichtsvoll sein, fünfe auch

mal gerade sein lassen. Einfach so, ohne Grund und Anlass. Weil man ja nicht

weiß, ob nicht vielleicht damit – am anderen Ende der Welt – ein kleiner Sturm

von Herzlichkeit und Freude ausgelöst wird. Weil man ja nicht weiß, ob nicht so

manche schwerwiegende, folgenreiche Entscheidung, die in den Rathäusern,

Gerichten oder Vorständen dieser Welt getroffen wird, ein ganzes Stück

menschlicher ausfällt, weil morgens jemand in der Bäckerei gelächelt hat. Bei

Carsten jedenfalls hat es funktioniert. Und wenn es bei dem funktioniert, ist

das für mich fast schon so etwas wie ein Beweis.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/60178_WDR220230126Schroedter.mp3

  • 26.1.2023
  • Thomas Schrödter
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