Ich weiß auch nicht. Irgendwie
ist Carsten so anders heute. So freundlich. Carsten ist normalerweise einer von
denen, bei denen man schon beim „Guten Morgen!“ sagen das Gefühl hat, man muss
sich entschuldigen. Ein Morgenmuffel der ersten Güte. Vor dem dritten Kaffee
ungenießbar. Heute nicht. Er lächelt, witzelt. „Carsten, was ist los? Du hast
aber gute Laune heute Morgen.“ Ja, sagt er, heute ist irgendwie mein Tag. Das hat
heute ganz früh beim Bäcker schon angefangen. Die haben eine neue Verkäuferin“,
sagt er, „eine ganz nette. Die hat so gestrahlt, früh am Morgen schon. Und das ist
irgendwie auf mich übergegangen“. Sagt er. „Aha“, sage ich. Und freue mich. Für
ihn. Und für uns. Und ich bin der netten Frau in der Bäckerei dankbar. Denn
Carsten lächelt sich heute durch den Tag.
Hoffentlich hat sie morgen
wieder Dienst. So kann das manchmal gehen: Ein kleines Lächeln am Morgen
verändert einen ganzen Tag. Macht irgendwie alles besser. Und nicht nur für
einen Menschen allein. Es breitet sich aus. Von der Verkäuferin zu Carsten. Von
Carsten zu den Leuten im Büro. Und wenn die dann später nach Hause gehen, sind
sie bestimmt viel weniger genervt. Weil Carsten einfach weniger gemeckert hat
als üblich. Und das freut auch die Familien, die Nachbarn. Man kennt die Idee
vom "Schmetterlingseffekt". Die sagt: Durch den Flügelschlag eines
Schmetterlings kann durch eine ungeordnete Reihe von Verkettungen und
Beeinflussungen am anderen Ende der Welt ein Orkan entstehen. Seit heute Morgen
bin ich mir ziemlich sicher, dass das auch für Nettigkeiten gilt. Da steckt
viel Kraft in einem Lächeln. Und es reicht weiter, als man annimmt. „Seid auf
Gutes bedacht gegenüber jedermann.”, (Röm 12,17) sagt die Bibel. Das könnte
doch eine Art Herausforderung sein: Den kleinen Schmetterlingsflügelschlägen
unserer Freundlichkeit mehr zutrauen. Lächeln, rücksichtsvoll sein, fünfe auch
mal gerade sein lassen. Einfach so, ohne Grund und Anlass. Weil man ja nicht
weiß, ob nicht vielleicht damit – am anderen Ende der Welt – ein kleiner Sturm
von Herzlichkeit und Freude ausgelöst wird. Weil man ja nicht weiß, ob nicht so
manche schwerwiegende, folgenreiche Entscheidung, die in den Rathäusern,
Gerichten oder Vorständen dieser Welt getroffen wird, ein ganzes Stück
menschlicher ausfällt, weil morgens jemand in der Bäckerei gelächelt hat. Bei
Carsten jedenfalls hat es funktioniert. Und wenn es bei dem funktioniert, ist
das für mich fast schon so etwas wie ein Beweis.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/60178_WDR220230126Schroedter.mp3