Musik:
live Klezmer
Autorin:
Seit 1700 Jahren leben Juden und Jüdinnen in
Deutschland. Um dieses Jubiläum angemessen zu feiern, hat der Verein „1700
Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ bundesweit 1800 Veranstaltungen
organisiert. Da Corona den Kulturschaffenden immer wieder einen Strich durch
die Rechnung gemacht hat, sind die Feierlichkeiten um sechs Monate verlängert
worden.
O-Ton:
Das ist ein sehr schöner Anlass, um eben jetzt Kultur auf die Bühne zu bringen und immer kleine Fenster zu öffnen. Für
mich sind diese 1700 Jahre kulturell kleine Fenster, die geöffnet werden, wo
man mal hineinschauen kann. Es hilft verschiedene Facetten der jüdischen Kultur
und auch der deutschen Kultur zu beleuchten.
Autorin:
Sagt Sharon Brauner, Schauspielerin und Tänzerin. Mit dem Stück „Tango – die
Kunst zu überleben“ öffnet sie eines dieser Fenster: Einer wunderbaren
Begegnung zwischen ihr und der Tänzerin Rosalie Wanka. Im
Oktober 21 hatte das Stück Premiere in Bonn und geht jetzt im Juni wieder auf
Tournee.
O-Ton:
Einen wunderschönen guten Abend meine
Damen und Herren. Herzlich willkommen zu Tango-die Kunst zu überleben. Es
erwartet sie nicht nur noch mehr Tanz von der wunderbaren Rosalie Wanka, die Sie
gerade gesehen haben, sondern auch ein kurzer Abstecher in die Welt des Tangos
und auch ein ganz kurzer Abstecher in die jüdische Welt.
Autorin:
Die Idee des Stücks: Den gemeinsamen Nenner zwischen Juden und Nicht-Juden zu
suchen. Nach dem zu fragen, was allen Menschen gemeinsam ist. Egal ob Jude oder
Nicht-Jude. Es sind die existenziellen Bedrohungen, das Gefühl von nicht mehr weiterwissen,
am Ende zu sein. Und was die meisten auch kennen ist: die Kunst, zu überleben. Besonders
viel können jene darüber erzählen, die man auslöschen wollte. Und wo sie selbst
nicht mehr berichten können, erinnern sich ihre Kinder und Enkelkinder.
O-Ton:
Es fällt mir auch immer schwer zu sagen, dass ich eine Jüdin bin, weil ich eben
nicht religiös bin, aber aus einer jüdischen Familie komme. Und ich bin so eine
Berliner Göre, dass ich mich damit so vielmehr identifizieren kann als mit
irgendwas anderem.
Musik: Klezmer
live
O-Ton:
Wenn man das Judentum verstehen möchte,
dann muss man ganz vorne anfangen. Und am Anfang und am Ende und Maßstab aller
Dinge ist die jüdische Mutter. Und es gibt auch nur ein Gesetz: Sie hat immer
Recht. Und ich muss das wissen, weil ich bin selber eine. Kennen sie den
Unterschied zwischen einem Pitbull und einer jüdischen Mutter? Der Pitbull, der
lässt irgendwann mal los. Und davon handelt auch das erste folgende Lied, das
wir mitgebracht haben.
Autorin:
Von der erdrückenden Liebe und Fürsorge der jüdischen Mutter. Die ihrem Sohn ganz
viel anzieht: Schal, Mantel, Handschuhe, damit er nicht friert. Dabei träumt der
Junge davon, frei wie ein Vogel zu sein. Er klettert auf einen Apfelbaum, kann
seine Flügel aber nicht mehr heben.
Musik: Oyfn Veg shteyt a Boim live
O-Ton:
Diese jiddischen Lieder gleichen für mich einem Schatz; deswegen habe ich da
auch zwei CDs gemacht, die ich „juwels“ genannt habe, weil es Schätze sind, die
so viel Lebensweisheit zum Teil in sich tragen und eben auch Humor, weil man
diesen Humor braucht, um zu überleben.
Autorin:
Sharon Brauner ist die Tochter von Holocaust
Überlebenden. Die 52-jährige gehört zur sogenannten second generation, der
zweiten Generation. Der Holocaust saß bei ihnen zu Hause am KüchentischIhr
Vater stammt aus Polen, den Krieg hat er in Russland überlebt. Mit seinen
Eltern und Geschwistern hat er jiddisch gesprochen.
O-Ton:
Und mit seinen Freunden, wenn er Karten gespielt hat, als ich ein Kind war und
die hatten zum Teil Nummern eingraviert, tätowiert auf dem Arm, was ich dann
später natürlich mitbekommen habe, dass das Ausschwitz Überlebende waren, und
da bin ich so ein bisschen in deren Welt eingetaucht.
Autorin:
Ohne zu wissen, was der Holocaust gewesen ist. Eher zufällig hat sie später herausgefunden,
was den Überlebenden guttut. Als ihr Vater Geburtstag hat, singt Sharon ein jiddisches
Lied für ihn.
Musik: Bei mir bist du schön, CD „Lounge Jewels Sharon
Brauner sing Yiddish Evergreena“, LC 15316, 2013 Solo Musica.
Autorin:
Was sie bei ihrem Vater und seinen Freunden gespürt
hat:
O-Ton:
Dass denen das gut tut, dass denen das
was bedeutet, wenn sie sehen, dass es doch weitergeht und das es eine
Kontinuität gibt und dass diese Sprache nicht gerade komplett in Vergessenheit
gerät, sondern dass die Kinder und Enkelkinder eben diese Tradition aufrecht
erhalten frei nach dem Motto: „Tradition ist nicht das Bewahren und Halten der
Asche, sondern die Weitergabe der Fackel“. Und dann habe ich für diese Leute
angefangen zu singen, und bin in ein jüdisches Altersheim gegangen und hab da
für diese Menschen gesungen.
Autorin:
Es geht doch weiter – unsere Kultur lebt – man hat uns nicht komplett
vernichtet – Gefühle und Gedanken, die den Überlebenden gut tun. Die
Muttersprache ist für jede und jeden so etwas wie Heimat. Aber es ist nicht nur
die jiddische Sprache, es sind auch die Inhalte der Lieder. Es geht um die
jüdische Identität, um die Weitergabe der Fackel, des Feuers, der Tradition wie
Sharon Brauner es nennt. Um das, was lebt und leben soll. In diesen Liedern geht
es um die Weitergabe der Fackel, des Feuers, der Tradition.
Wie Holocaust Überlebende überhaupt weiterleben
haben können nach dem, was sie erlebt haben, das hat Sharon Brauner sich immer
wieder gefragt. Heute gibt es dafür das schöne Wort Resilienz – Überleben trotz
widriger Umstände.
O-Ton:
Das ist ein Begriff, aber begreifen
werde ich das wohl nie. Vielleicht ist es einfach Stärke oder die Kraft der
Liebe. Ich weiß es nicht.
Autorin:
Vielleicht. Etwas
von dem, was Resilienz ausmacht, hat Sharon Brauner
bei ihren Eltern beobachtet.
O-Ton:
Ich weiß nur, dass mein 98-jähriger Papa
sich an allem erfreut, was es so gibt. Ob das ein Sonnenstrahl ist, ein
Marmeladenbrot, ein schönes Mädchen, das vorbeigeht, sein täglicher Wodka was
auch immer. Und genauso meine über 80-jährige Mutter. Und von den beiden habe
ich gelernt, das Leben zu umarmen und zu lieben und sich über all das zu
freuen, was man hat. Auch wenn es nur Erinnerungen sind.
Autorin:
Davon handelt ein
weiteres Lied in dem Stück „Tango – die Kunst zu überleben“.
O-Ton:
Es geht um Erinnerungen an Menschen, die es nicht mehr gibt. Aber diese
Erinnerungen, die immer wieder kommen und manchmal sind sie schön, manchmal furchtbar
schmerzhaft, wie eine Melodie, die manchmal eine Freude ist, manchmal aber auch
ein furchtbarer Ohrwurm.
Musik: Friling
live
Autorin:
Dieser Tango „Friling“ ist sehr bekannt. Geschrieben
von dem Komponisten Shmerke Kaczerginski 1943 in
Litauen, im Ghetto von Wilna. Er hat den Tango für seine Frau geschrieben, die
gerade verstorben war. In dem Stück bittet er den Frühling, ihn von seiner
Trauer zu erlösen.
Musik:
Tango Piazzola live
Autorin: Dieser
Tango von Astor Piazzola bringt für mich die unendliche Sehnsucht, den Schmerz,
das Heimweh der verlorenen Seelen zum Ausdruck. Für sie ist der Tango ein Stück
Heimat. Zumindest für diese berühmten drei Minuten – die Dauer eines Tangos. Das
ist schon so in Buenos Aires gewesen – in den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts. Damals lebten dort 250.000 jüdische Immigranten – viele von ihnen
sind Musiker gewesen und hatten ihre Lieder aus Osteuropa mitgebracht. Als es
in Paris en vogue wurde, Tango zu tanzen, da sind die jüdischen Musiker wieder nach
Europa gereist, um damit Geld zu verdienen. Zu dieser Zeit sind viele jüdische Tangos
entstanden, die durchaus Humor beweisen.
O-Ton: Wie das Folgende. Da geht es um eine Frau,
die sich für unwiderstehlich hält und einen Mann auffordert sie so zu packen,
wie das nur ein Mann kann, der sich von me too nicht beeindrucken lässt. Das
ist quasi eine Aufforderung zum schlechten Benehmen in einer Zeit, wo man das
noch männlich nannte.
Musik: live Tango el Choclo
Autorin: „Der
Tango ist ein Stück Heimat für die Heimatlosen – die Zugewanderten, aber auch für
die innerlich Immigrierten,“ sagt Rosalie
Wanka. Sie tanzt Tango, seitdem sie dreizehn ist, hat mehrere Jahre in Buenos
Aires gelebt und hat dort sogar eine eigene Tanz-Companie gegründet. Sie weiß,
was es heißt, in der Diaspora zu leben, auch in der inneren. Und hat diese
Erfahrung in einem Tanzstück verarbeitet. „Landschaften meiner inneren Diaspora“,
nennt sie es. Eigentlich kennen alle die „innere Diaspora“, Juden und Nicht-Juden.
Das Verloren sein, das Sich-fremd-fühlen, das Wegwollen, obwohl man doch gerade
erst angekommen ist.
Für Rosalie Wanka ist das Tanzen
auf einem Tango Tanzabend, einer sog. Milonga, ihre Kunst zu überleben. Sie sagt:
„Die Milonga ist ein Ort, der mein zu Hause ist. Weltweit. Egal, wo ich
hinkomme, überall gibt es eine Milonga. Ich kenne den Dresscode, den
Verhaltenskodex, die Typen.“ Wer selber Tango tanzt, muss jetzt schmunzeln. Weil:
Es ist tatsächlich so. Und alle, die Tango tanzen, kennen den Libertango von
Astor Piazolla.
O-Ton: Wenn man sich diesen Text mal anschaut, was ich
getan habe, ist mir aufgefallen, dann fällt Ihnen auf, dass der sehr düster und
morbide ist. Und man kann ihn eigentlich so verstehen, dass es um einen Stalker
geht, den man gerade abgeschüttelt hat und der dann doch wieder auftaucht. Oder
eine Depression. Man dachte, man hat sie gerade überwunden und plötzlich befällt
sie einen wieder. Oder eben Judenhass, den man gerade glaubt durch Vernunft
besiegt zu haben, der dann aber wie ein Virus an der nächsten Ecke wieder auf
sein Opfer wartet. Und deswegen kommt jetzt eine jiddische Version.
Musik:
Live Libertango von Astor Piazolla, Jiddischer Text: Sharon Brauner,
Arrangement: Harry Ermer, Live-Mitschnitt
O-Ton:
1700 Jahre jüdisches Leben im deutschen
Sprachraum. Wir reden also vom Jahr 321. Katastrophen, Unwetter, Kriege, Seuchen, das gab es ja alles schon zu
der Zeit. Also im Prinzip haben wir eigentlich immer dann Glück, wenn das
Unglück nicht zuschlägt. Und die Juden können davon nicht nur ein Lied singen
und deswegen haben wir gleich mehrere Lieder über das mitgebracht, was
eigentlich das Wichtigste im Leben ist. Das Glück.
Musik: live Glick Medley
Autorin:
Ja, manchmal ist es eben auch das Glück, das Menschen rettet. Das was
hinzukommt. Plötzlich und unerwartet. Das wir nicht in der Hand haben. Bei den
Proben und Aufführungen dieses Tanztheaterstücks habe ich Sharon Brauner
kennengelernt.
Mit ihr habe ich wirklich Glück gehabt. Sie
ist so sympathisch, die kleine zarte Frau auf den hohen Absätzen, sie ist so
offen für Begegnung und so frei von: „Wer bist du, dass ich überhaupt mit dir
rede.“ Sie ist so spontan, plaudert mit jedem, der ihr über den Weg läuft und
hilft, wo sie kann. „Jüdische Künstlerin“ soll ich sie nicht nennen. Damit
stecke ich sie in eine Schublade, aber wenn ich das Schubladendenken brauche –
bitte sehr. Sie sagt, sie glaubt an die Macht der Liebe. Das ist ihre Religion.
Musik:
live Glick Medley
Autorin:
Sharon Brauner ist so unglaublich lebendig, so
kommunikativ – so ernsthaft und so humorvoll. Sie repräsentiert ein Judentum,
mit dem man was zu tun haben will.
Die Eltern von Sharon Brauner haben
ihren Töchtern gesagt: „Warum haben wir den Holocaust überlebt, wenn ihr Euer
Leben vergeudet.“
O-Ton:
Und
das ist vielleicht auch noch so eine sehr jüdische Eigenschaft, dass man
probiert, das Beste aus der Situation herauszuholen. Das wirklich Allerbeste
für alle Beteiligten zu machen.
Autorin:
Eine Freundin von mir hat jüdische Wurzeln. Als
Kind hat sie gelernt, ihr jüdisch sein zu verheimlichen. Nach der Aufführung
sagt sie: „Jüdisch zu sein, ist ja doch was Tolles. Zeit, dass ich mich mal mit
meiner jüdischen Seite beschäftige. „Da ist ein Funke der Fackel
übergesprungen. „Tango – die Kunst, zu überleben“ ist Anfang Juni gleich in mehreren
Städten zu sehen. Unter anderem gibt es auch ein Benefizkonzert für die Ukraine.
In der Dortmunder Synagoge am 9. Juni. Alle Termine finden Sie auf der
Homepage. Tango-die-Kunst-zu-ueberleben.
Musik:
live Padam, Padam
Autorin:
Im vergangenen Jahr haben die antisemitischen
Straftaten zugenommen. Die 1800 Veranstaltungen im Rahmen des Jubiläums „1700
Jahr jüdisches Leben in Deutschland“ haben das nicht verhindert. Leider. Was
uns bleibt, ist wachsam zu bleiben. Antisemitische Anfeindungen nicht zu
dulden. Aufzustehen und uns schützend vor unsere Geschwister im Glauben zu
stellen.
Vergessen wir nicht: Wir alle sind Menschen
unter Menschen. Existenziell bedroht, durch Krankheit, Krieg, Hunger. Und wir
alle wollen überleben. Dazu bitten wir um Gottes Hilfe, in der letzten Musik, einem
jüdischen Gebet, das mit unserem Vaterunser vergleichbar ist.
Ich wünsche ihnen allen einen friedvollen
Sonntag,
Ihre Rundfunkpastorin Sabine
Steinwender-Schnitzius aus Wuppertal.
Schluss-Musik:
Adon Olam
Redaktion: Landespfarrer
Dr. Titus Reinmuth