Autorin: Guten Morgen!
„Kleines Glück im großen
Grauen.“ (1) So ist ein Video untertitelt, das nach Angaben der Zeitung „Die
Welt“ Anfang April in einer U-Bahn-Station in der ukrainischen Stadt Charkiw
aufgenommen wurde. „Kleines Glück im großen Grauen" zeigt ein Brautpaar.
Er im lässigen Anzug, sie im flippigen Brautkleid mit Blumenkranz im Haar und
dicken Stiefeln an den Füßen. Sie sehen verliebt und glücklich aus. Der
Bräutigam trägt seine Braut auf den Händen. Sie küssen sich innig. Freunde
prosten ihnen zu und klatschen. Musik tönt durch die Station.
Neugierige kommen hinzu. Sie
haben hier unten Zuflucht gefunden. Denn oben über den Gängen der
U-Bahn-Station tobt der Krieg. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine
und hart umkämpft. Auch am Hochzeitstag der beiden sterben Menschen durch
Bombenangriffe, drei Kinder sind darunter.
Aber Anastasiya Grachova und
Anton Sokolov heiraten trotzdem. Anton hat seiner Liebsten den Heiratsantrag
sogar erst gemacht, als der Krieg schon im Gange war. Als wollte er sagen:
Jetzt erst recht.
Die beiden sind nicht naiv.
Sie arbeiten im Gesundheitswesen. Sie versorgen alte Menschen, die nicht mehr
aus dem Haus können, mit Medikamenten und müssen sich dafür jeden Tag den Weg
durch die Trümmer bahnen. Sie können das Grauen gar nicht ausblenden. Warum
heben sie sich die Hochzeit nicht für bessere Tage auf? Anton sagt, warum es
jetzt sein muss:
Sprecher: Trotz all des Schreckens, der in Charkiw und in der
Ukraine passiert, gibt es einen Platz für die Liebe. Es gibt Freundlichkeit.
Autorin: Und Anastasiya ergänzt:
Sprecherin: Es gibt Freundlichkeit, Wärme. Nur solche Gefühle
werden uns helfen zu gewinnen, es zu überstehen.
Autorin: Ein Hochzeitsfest mitten im Krieg. Ein starkes
Zeichen. Es erinnert mich an Martin Luther und Katharina von Bora, die 1525 –
ebenfalls ziemlich überstürzt – mitten im Bauernkrieg geheiratet haben. Damals
gab es ähnliche Einwände. Luthers Freund Melanchthon empörte sich: Wie könnt
Ihr mitten im Krieg heiraten? Feiern, während andere auf dem Schlachtfeld ihr
Leben lassen?
Aber Martin und Katharina
haben es ebenso getan wie Anton und Anastaisya. Sie setzen dem Krieg etwas
entgegen. Freundlichkeit, Wärme, Liebe. „Nur solche Gefühle werden uns helfen
zu gewinnen, es zu überstehen“, hat Anastasyia, die Braut gesagt.
Ein Hochzeitsfest gegen den
Krieg. Eine Waffe anderer Art. Die Theologin und Dichterin Christina Brudereck
hat ein Wort dafür gefunden: Trotzkraft. Ich mag das Wort sehr. Die Trotzkraft
bäumt sich gegen die Resignation auf. Sie schiebt die Bitterkeit zur Seite. Sie
schafft Raum für Menschlichkeit mitten zwischen Trümmern. Sie erdenkt sich eine
bessere Zukunft und macht sie für einen Moment schon zur Gegenwart. Sie gibt
niemals auf. Anastasiya und Anton: Ich stoß‘ auf Euch an. Auf Eure Trotzkraft!
Es grüßt Sie, Pfarrerin
Christel Weber aus Bielefeld.
Quelle: https://www.welt.de/vermischtes/video238007605/Hochzeit-im-Krieg-Ukrainisches-Paar-aus-Charkiv-heiratet-in-Truemmern.html (letzter Abruf 27.05.2022)
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58393_WDR3520220613Weber.mp3