Trotzkraft

Kirche in WDR3 | 13.06.2022 | 00:00 Uhr

Autorin: Guten Morgen!

„Kleines Glück im großen

Grauen.“ (1) So ist ein Video untertitelt, das nach Angaben der Zeitung „Die

Welt“ Anfang April in einer U-Bahn-Station in der ukrainischen Stadt Charkiw

aufgenommen wurde. „Kleines Glück im großen Grauen" zeigt ein Brautpaar.

Er im lässigen Anzug, sie im flippigen Brautkleid mit Blumenkranz im Haar und

dicken Stiefeln an den Füßen. Sie sehen verliebt und glücklich aus. Der

Bräutigam trägt seine Braut auf den Händen. Sie küssen sich innig. Freunde

prosten ihnen zu und klatschen. Musik tönt durch die Station.

Neugierige kommen hinzu. Sie

haben hier unten Zuflucht gefunden. Denn oben über den Gängen der

U-Bahn-Station tobt der Krieg. Charkiw ist die zweitgrößte Stadt in der Ukraine

und hart umkämpft. Auch am Hochzeitstag der beiden sterben Menschen durch

Bombenangriffe, drei Kinder sind darunter.

Aber Anastasiya Grachova und

Anton Sokolov heiraten trotzdem. Anton hat seiner Liebsten den Heiratsantrag

sogar erst gemacht, als der Krieg schon im Gange war. Als wollte er sagen:

Jetzt erst recht.

Die beiden sind nicht naiv.

Sie arbeiten im Gesundheitswesen. Sie versorgen alte Menschen, die nicht mehr

aus dem Haus können, mit Medikamenten und müssen sich dafür jeden Tag den Weg

durch die Trümmer bahnen. Sie können das Grauen gar nicht ausblenden. Warum

heben sie sich die Hochzeit nicht für bessere Tage auf? Anton sagt, warum es

jetzt sein muss:

Sprecher: Trotz all des Schreckens, der in Charkiw und in der

Ukraine passiert, gibt es einen Platz für die Liebe. Es gibt Freundlichkeit.

Autorin: Und Anastasiya ergänzt:

Sprecherin: Es gibt Freundlichkeit, Wärme. Nur solche Gefühle

werden uns helfen zu gewinnen, es zu überstehen.

Autorin: Ein Hochzeitsfest mitten im Krieg. Ein starkes

Zeichen. Es erinnert mich an Martin Luther und Katharina von Bora, die 1525 –

ebenfalls ziemlich überstürzt – mitten im Bauernkrieg geheiratet haben. Damals

gab es ähnliche Einwände. Luthers Freund Melanchthon empörte sich: Wie könnt

Ihr mitten im Krieg heiraten? Feiern, während andere auf dem Schlachtfeld ihr

Leben lassen?

Aber Martin und Katharina

haben es ebenso getan wie Anton und Anastaisya. Sie setzen dem Krieg etwas

entgegen. Freundlichkeit, Wärme, Liebe. „Nur solche Gefühle werden uns helfen

zu gewinnen, es zu überstehen“, hat Anastasyia, die Braut gesagt.

Ein Hochzeitsfest gegen den

Krieg. Eine Waffe anderer Art. Die Theologin und Dichterin Christina Brudereck

hat ein Wort dafür gefunden: Trotzkraft. Ich mag das Wort sehr. Die Trotzkraft

bäumt sich gegen die Resignation auf. Sie schiebt die Bitterkeit zur Seite. Sie

schafft Raum für Menschlichkeit mitten zwischen Trümmern. Sie erdenkt sich eine

bessere Zukunft und macht sie für einen Moment schon zur Gegenwart. Sie gibt

niemals auf. Anastasiya und Anton: Ich stoß‘ auf Euch an. Auf Eure Trotzkraft!

Es grüßt Sie, Pfarrerin

Christel Weber aus Bielefeld.

Quelle: https://www.welt.de/vermischtes/video238007605/Hochzeit-im-Krieg-Ukrainisches-Paar-aus-Charkiv-heiratet-in-Truemmern.html (letzter Abruf 27.05.2022)

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58393_WDR3520220613Weber.mp3

  • 13.6.2022
  • Christel Weber
  • © CCO Pixabay
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