Vollkommen?

Kirche in WDR3 | 19.05.2023 | 00:00 Uhr

Guten

Morgen

„Auweia,

geht’s auch eine Nummer kleiner!?“, denke ich beim Traugespräch mit dem jungen

Paar.

„Ihr

sollt vollkommen sein, wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist“

(Matthäusevangelium 5,48) diesen Satz von Jesus aus der Bergpredigt haben sich

die beiden ausgesucht – als Segensspruch und als Motto für ihr junges Glück. So

richtig lange kennen sie sich noch nicht, ein Kind ist unterwegs und der

Trauschein verhilft der Braut zugleich zum Recht, in Deutschland zu bleiben.

Wenn auch erstmal nicht mehr als Studentin in der Großstadt, sondern als

Mutter. Im Haus der Schwiegereltern auf einem hessischen Dorf.

Zwei

Jahrzehnte ist das her. Aber die zwei sind mir im Gedächtnis geblieben mit

ihrem Optimismus, und mit meiner Skepsis. Und von Herzen hoffe ich, dass sie

ihr Glück behalten haben und immer neu gefunden.

„Ihr

soll vollkommen sein.“ Noch immer halte ich das für einen zu hohen, vielleicht

sogar gefährlichen Anspruch. Erst recht, wenn er sich an eine Partnerschaft

richtet. Scheitern nicht allzu viele Beziehungen genau daran, dass zwei

Menschen voneinander buchstäblich alles erwarten? Das ganze Glück, alle

Erfüllung und jeden Sinn, den das Leben bieten soll … Wie soll das gehen, und

wer soll das schaffen?

„Ihr

werdet sein wie Gott“ – so vollkommen, so großartig. In der Erzählung vom

verlorenen Paradies lockt die Schlange Adam und Eva mit diesem verlogenen

Versprechen. Auch wenn wir seit Adam und Eva einen ganz schönen Sprung gemacht

haben im Können und Wissen, in unseren Möglichkeiten, die Natur zu nutzen und

uns zu schützen – wir machen Fehler, sind oft genug den Gewalten der Natur

ausgeliefert. Und Allmacht und Allwissenheit, die einst Gott vorbehalten waren,

sind unterdessen zum irrwitzigen Traum blutiger Diktatoren oder zum Kennzeichen

anonymer Maschinen geworden.

Wie

Gott sein? Bitte zu Hause nicht nachmachen!

In

der Bibel lese ich immer wieder: Gott ist Gott und die Menschen dürfen Menschen

bleiben. Bloß an einem Punkt, da ist es anders. In der Bergpredigt. Wo Jesus

den Menschen empfiehlt, sich an der Vollkommenheit Gottes auszurichten. Nicht

an seinem Wissen oder seiner Macht. Sondern Jesus sagt: Seid barmherzig wie

Gott. Orientiert euch an seiner Freude am Vergeben, an seiner Lust an der Güte

und seiner Kraft nicht nur meine Nächsten, sondern auch meinen Feind, meine

Feindin zu lieben.

Dumm

nur, dass genau hier, unser Ehrgeiz offenbar nicht besonders groß ist. Und umso

wunderbarer, dass Gott uns das trotzdem weiter zuzutrauen scheint. Denn

„Wir

sind bestimmt (…) [Gott] zu ‚gleichen‘“, so hat es der jüdische

Religionsphilosoph Martin Buber einmal formuliert. Wir sind zum Bild Gottes geschaffen.

Und das heißt nicht, meine Macht und Stärke an seiner zu messen, sondern meine

Seele „ihm anzunähern“.

Auch

das ist ein hoher Anspruch und es ist ein großartiges Versprechen. Und eine

Liebe, Beziehungen, Freundschaften, in denen ich das mit anderen leben kann –

gütig sein, verzeihen, aufeinander zugehen – das ist schon nah an der

Vollkommenheit.

Einen

gesegneten Tag wünscht Ihnen

Ihr

Jan-Dirk Döhling aus Bielefeld

Quellen: Martin Buber, Nachahmung Gottes

in: Martin Buber Werksausgabe, Band 8, herausgegeben von Paul Mendes-Flohr und

Peter Schäfer , Gütersloh 2005, Seiten 35-48, Zitat Seite 40.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/61094_WDR3520230519Doehling.mp3

  • 19.5.2023
  • Jan-Dirk Döhling
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