Es ist eine vage Erinnerung
aus meiner Kindheit. Ich sitze mit ein paar Frauen bei meiner Oma in der Küche,
die Männer spielen im Wohnzimmer Skat. Eine sagt: „Und als es dann wieder
passierte, musste ihre Mutter Klavier spielen …“ Danach Pause. Keine sagt
etwas. Die Frauen schweigen und wechseln vielsagende Blicke. Als Kind habe ich
überhaupt nicht kapiert, worum es da ging. Heute weiß ich es. Meine Mutter hat
es mir irgendwann erzählt. Es ging um die Vergewaltigung einer jungen Frau. Sie
war 18 oder 19. Sowjetische Soldaten haben sie vergewaltigt. Das war 1945.
30 Jahre später konnte man immer
noch nicht so richtig darüber sprechen konnte oder wollte, war die Sache mit
dem Klavierspiel ihrer Mutter eine Art Chiffre für das Grauen. Das Grauen, das
sicher alle Frauen befällt, wenn es darum (um sexualisierte Gewalt) geht.
Heute hören wir wieder von
solch grausamen Taten. Frauen werden gedemütigt, gequält. Nicht in weit
entfernten Ländern, sondern mitten in Europa. Da ist die 14-jährige. Sie ist jetzt
schwanger davon. Oder der elfjährige Junge, der vor den Augen seiner Mutter missbraucht
wird. Menschenrechtler:innen haben von den schrecklichen Fällen in Butscha und
anderen Orten berichtet.
Früher haben viele noch
geglaubt, so eine Vergewaltigung im Kriegskontext ist ein individuelles
Schicksal. Dass es eine:n dummerweise oder zufällig getroffen hat. Heute wissen
wir viel mehr. Denn Vergewaltigen ist eine Waffe, eine Kriegsstrategie. Es geht
darum, die feindliche Seite zu erniedrigen, zu zerstören. Das ist nicht erst seit
dem Angriffskrieg auf die Ukraine so. Massenvergewaltigungen haben im Bosnienkrieg
stattgefunden oder durch Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Kennerinnen beschreiben
das als Teil eines Genozids mit Beispielen aus Ruanda, Nigeria oder Kolumbien:
„Unsere Körper sind euer Schlachtfeld“: So heißt das Buch einer britischen
Journalistin. Sie gibt den Opfern eine Stimme.
Was in der Ukraine gerade
passiert, kann doch eigentlich niemanden kalt lassen. Und dazu gehören auch Massengräber,
Sprengfallen oder Landminen. Mobile Krematorien. Ich verstehe wirklich nicht,
warum immer noch diskutiert wird, ob und welche Waffen wir liefern. Ob wir mit
dem Kauf von Erdöl und Erdgas diesen Krieg weiter finanzieren wollen. Ja, unser
Leben wird nicht einfacher und noch teurer werden. Aber was ist das im
Vergleich zu dem Leben der Ukrainer und Ukrainerinnen? Egal, ob sie geflüchtet
sind oder ihr Land verteidigen. Oder in irgendwelchen Kellern ausharren müssen,
wo Essen und Wasser immer knapper werden.
Dietrich Bonhoeffer hat
gesagt/geschrieben: „Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man
muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.“ Das war 1933, als der von den
Nazis geschürte Judenhass zum ersten Mal so richtig greifbar geworden ist. Und
die große Mehrheit dazu geschwiegen hat. Damals hat sich abgezeichnet, dass aus
Deutschland ein Unrechtsstaat wird. Ich finde die Worte des evangelischen
Theologen sind aktueller denn je. Unrecht geschieht auch jetzt in der Ukraine. Deshalb
finde ich, es ist das Mindeste, dass wir dem Rad in die Speichen fallen. Indem
wir der Ukraine geeignete Waffen zur Verteidigung liefern. Nicht nur die Panzer,
die hier keiner mehr will. Moderne werden dort dringend gebraucht. Und das
Embargo auf das ausdehnen, was Russland wirklich trifft. Sein Öl und sein Gas. Denn
es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden.
Quellen:
https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-freitag-117.html
(vom 9. April, zuletzt abgerufen am 27.4.22)
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/vergewaltigung-kriegswaffe-ukraine-krieg-russland-100.html
(zuletzt abgerufen am 27.4.22)
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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