Mindesthaltbarkeitsdatum

Kirche in WDR2 | 20.04.2023 | 00:00 Uhr

Noch nie hat sie so einen

Satz gehört. Und noch nie hat sie sich so gedemütigt gefühlt.

Sie sitzt an ihrem kleinen

Tisch, hält die Tränen zurück und zieht ihren Ring vom Daumen. Sie dachte

immer, das sieht cool aus, so ein Ring am Daumen. Aber der hat ihr heute auch

nichts genützt. Heute hat ihr überhaupt nichts genützt. Nicht ihr schickes

Outfit, nicht der Blick, den sie für solche Treffen aufzusetzen pflegt, und

erst recht nicht der Versuch, sich fünf Jahre jünger zu machen. Der Mann hat

sich ein bisschen darauf eingelassen, war auch zunächst ganz nett. Aber

irgendwann ist er aufgestanden und hat gesagt: „Okay, ich denke, das reicht

jetzt. Das ist alles ganz hübsch hier und wie du auftrittst, das ist durchaus

überzeugend. Aber trotzdem: Jeder sieht doch, dass dein Mindesthaltbarkeitsdatum

längst abgelaufen ist. Also vergiss es!“

Dann hat er sich umgedreht

und ist gegangen. Hat sie sitzen lassen an ihrem kleinen Tisch mit ihrem

fassungslosen Gesicht und diesem Ring am Daumen. Der nun gar nicht mehr cool

wirkt, sondern einfach nur stört. Was er eigentlich schon die ganze Zeit getan

hat, wenn sie ehrlich ist.

Und jetzt? Nicht mal Geld für

die Rechnung hat er hingelegt! Nur diesen Satz hat er ihr hinterlassen: „Dein

Mindesthaltbarkeitsdatum ist längst abgelaufen!“ Mein Gott, das ist so

arrogant, so begutachtend! Als wäre sie ein Becher Joghurt, den man im Laden

nicht mitnimmt, weil er morgen schon nicht mehr genießbar sein könnte.

Als der Kellner fragt, ob sie

noch was trinken will, schüttelt sie nur den Kopf. Sie will lieber zahlen und

nach Hause gehen. Oder sonst wohin, Hauptsache weg von hier!

Aber ihre Demütigung wird sie

mitnehmen. Wie einen schweren Klotz, den sie mit sich herumschleppt. Der sie

‘runterzieht und sie immer wieder neu traurig macht.

Es wird sie wenig trösten,

dass dem Mann einige Zeit später etwas Ähnliches passiert. Nur, dass er dabei

auch finanziell ganz fürchterlich über den Tisch gezogen wird. Seine Arroganz

fällt ihm dann auf die eigenen Füße. Aber was soll ihr das im Moment helfen?

Helfen können ihr andere

Menschen. Für die sie kein Mindesthaltbarkeitsdatum hat. Bei denen sie

stattdessen einfach sein kann, wie sie ist. Auch mit ihrem wirklichen Alter.

Sie braucht Menschen, denen sie nichts vormachen muss. Bei denen sie uncool

sein darf und sogar traurig oder niedergeschlagen. Menschen, die sie aufrichten

und annehmen. So wie Gott das tut.

Denn Gott sieht sie nicht

nur, wie sie wirklich ist. Gott akzeptiert sie auch so. Vor ihm darf sie

einfach sie selbst sein. Denn für ihn hat sie kein Mindesthaltbarkeitsdatum.

Und seine Liebe zu ihr hat auch keins.

Redaktion: Rundfunkpastorin

Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 20.4.2023
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