Extrakerze

Kirche in WDR3 | 04.04.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen,

Julia hat ein Faible für Kerzen.

Schon wenn sie morgens den Frühstückstisch deckt, zündet sie eine Kerze an.

Selbst dann, wenn die Zeit nur noch

für einen Kaffee reicht.

Und wenn sie abends zur Ruhe kommen

will, zündet sie sich ganz, ganz viele Kerzen an. Das ist inzwischen ein festes

Feierabendritual geworden.

Es dauert ein paar Minuten, bis alle

Lichter brennen. Aber gerade das findet Julia irgendwie schön.

Kerzen sind Julias ständiger

Begleiter.

Und sie sind für sie weitaus mehr

als hübsche Deko.

Bei ihr stehen keine Kerzen einfach

so rum und vergilben und verstauben.

Julia benutzt ihre Kerzen. Die

flackernden Kerzenflammen geben Julia ein Gefühl von Geborgenheit, von wohliger

Wärme, vielleicht sogar etwas von Liebe…

Manchmal, da zündet Julia auch eine

Extrakerze an.

Immer dann, wenn jemand in einer

schwierigen Situation steckt. Eine Prüfung vor sich hat.

Oder krank ist. Oder im Sterben

liegt.

Oder für die, die auf der Flucht sind.

Aus der Ukraine und vielen anderen Ländern der Erde.

Oder für die, die in den Kriegen dieser Welt getötet werden.

Dann zündet Julia diese Kerzen nicht

nur bei sich zu Hause an.

Eigentlich immer, wenn sich die

Gelegenheit bietet, zündet sie eine Kerze auch an anderen Orten an:

in einer Kirche

oder in der Krankenhauskapelle

oder am Grab ihres Bruders

oder gemeinsam mit Hunderten von Demonstrierenden

an der Gedenkstelle am Rathausplatz – vor einem Plakat mit einer Friedenstaube

und den Nationalfarben der Ukraine.

An Kerzenorten eben.

Das sind die Kerzen, die Julia

besonders wichtig sind. Weil auch andere sie sehen können, nicht nur sie selbst

in ihrer Wohnung.

Diesen Gedanken findet Julia

unheimlich tröstlich. Wenn sie in einer Kapelle oder Kirche vor so einem großen

Kerzenständer mit vielen Teelichtern oder kleinen Kerzen steht und spürt: Hier

war jemand schon vor mir da. Und ich kann mich einreihen in die Anliegen der

anderen. Manche haben vielleicht sogar eine ganz ähnliche Bitte an Gott wie

ich.

Die Kerzen die Julia an anderen

Orten als zu Hause anzündet, zeigen, was ihr persönlich wichtig ist im Leben.

Dass Licht ins Dunkle kommt.

Und dass sie noch keine Kerze

gesehen hat, die nicht leuchten kann.

Selbst die mit dem kürzesten Docht

und sogar die, die mal richtig nass geworden ist, kann irgendwann wieder

leuchten. Wenn man etwas geduldig ist.

Da hat Julia noch nie aufgeben

müssen.

Und jede Kerze bringt auf ihre ganz

eigene Weise Licht – und Wärme – und Bewegung ins Spiel. Genaues Hinsehen lohnt

sich.

Und oft denkt Julia, so ist das doch

mit mir und allen anderen auch:

Da ist keiner, der nicht irgendwie

leuchten kann in dieser Welt,

der nicht irgendwas kann oder macht,

was andere begeistert,

was andere bewegt und berührt,

was andere wärmt,

egal wie kurz der Docht vielleicht

grad ist oder ob man nass geworden ist.

Julia schaut auf die Uhr auf dem

Küchentisch und muss jetzt dringend los. Sie pustet noch eben die Kerze aus.

Ihr letzter Blick fällt auf die Zeitung, die sie heute Morgen wieder nicht

geschafft hat. Im Überfliegen der Schlagzeilen packt sie noch schnell das

Feuerzeug in die Tasche.

Heute will sie mal wieder eine

Extrakerze anzünden.

Da gibt es viele, um die es dunkel

geworden ist da draußen –

und die Welt braucht noch viel Licht.

Ich wünsche Ihnen und mir Menschen

wie Julia, die Licht ins Dunkle bringen.

Ihre Pfarrerin Anne Wellmann aus Tönisvorst.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57835_WDR3520220404Wellmann.mp3

  • 4.4.2022
  • Anne Wellmann
  • © CCO Pixabay
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