Guten Morgen,
Julia hat ein Faible für Kerzen.
Schon wenn sie morgens den Frühstückstisch deckt, zündet sie eine Kerze an.
Selbst dann, wenn die Zeit nur noch
für einen Kaffee reicht.
Und wenn sie abends zur Ruhe kommen
will, zündet sie sich ganz, ganz viele Kerzen an. Das ist inzwischen ein festes
Feierabendritual geworden.
Es dauert ein paar Minuten, bis alle
Lichter brennen. Aber gerade das findet Julia irgendwie schön.
Kerzen sind Julias ständiger
Begleiter.
Und sie sind für sie weitaus mehr
als hübsche Deko.
Bei ihr stehen keine Kerzen einfach
so rum und vergilben und verstauben.
Julia benutzt ihre Kerzen. Die
flackernden Kerzenflammen geben Julia ein Gefühl von Geborgenheit, von wohliger
Wärme, vielleicht sogar etwas von Liebe…
Manchmal, da zündet Julia auch eine
Extrakerze an.
Immer dann, wenn jemand in einer
schwierigen Situation steckt. Eine Prüfung vor sich hat.
Oder krank ist. Oder im Sterben
liegt.
Oder für die, die auf der Flucht sind.
Aus der Ukraine und vielen anderen Ländern der Erde.
Oder für die, die in den Kriegen dieser Welt getötet werden.
Dann zündet Julia diese Kerzen nicht
nur bei sich zu Hause an.
Eigentlich immer, wenn sich die
Gelegenheit bietet, zündet sie eine Kerze auch an anderen Orten an:
in einer Kirche
oder in der Krankenhauskapelle
oder am Grab ihres Bruders
oder gemeinsam mit Hunderten von Demonstrierenden
an der Gedenkstelle am Rathausplatz – vor einem Plakat mit einer Friedenstaube
und den Nationalfarben der Ukraine.
An Kerzenorten eben.
Das sind die Kerzen, die Julia
besonders wichtig sind. Weil auch andere sie sehen können, nicht nur sie selbst
in ihrer Wohnung.
Diesen Gedanken findet Julia
unheimlich tröstlich. Wenn sie in einer Kapelle oder Kirche vor so einem großen
Kerzenständer mit vielen Teelichtern oder kleinen Kerzen steht und spürt: Hier
war jemand schon vor mir da. Und ich kann mich einreihen in die Anliegen der
anderen. Manche haben vielleicht sogar eine ganz ähnliche Bitte an Gott wie
ich.
Die Kerzen die Julia an anderen
Orten als zu Hause anzündet, zeigen, was ihr persönlich wichtig ist im Leben.
Dass Licht ins Dunkle kommt.
Und dass sie noch keine Kerze
gesehen hat, die nicht leuchten kann.
Selbst die mit dem kürzesten Docht
und sogar die, die mal richtig nass geworden ist, kann irgendwann wieder
leuchten. Wenn man etwas geduldig ist.
Da hat Julia noch nie aufgeben
müssen.
Und jede Kerze bringt auf ihre ganz
eigene Weise Licht – und Wärme – und Bewegung ins Spiel. Genaues Hinsehen lohnt
sich.
Und oft denkt Julia, so ist das doch
mit mir und allen anderen auch:
Da ist keiner, der nicht irgendwie
leuchten kann in dieser Welt,
der nicht irgendwas kann oder macht,
was andere begeistert,
was andere bewegt und berührt,
was andere wärmt,
egal wie kurz der Docht vielleicht
grad ist oder ob man nass geworden ist.
Julia schaut auf die Uhr auf dem
Küchentisch und muss jetzt dringend los. Sie pustet noch eben die Kerze aus.
Ihr letzter Blick fällt auf die Zeitung, die sie heute Morgen wieder nicht
geschafft hat. Im Überfliegen der Schlagzeilen packt sie noch schnell das
Feuerzeug in die Tasche.
Heute will sie mal wieder eine
Extrakerze anzünden.
Da gibt es viele, um die es dunkel
geworden ist da draußen –
und die Welt braucht noch viel Licht.
Ich wünsche Ihnen und mir Menschen
wie Julia, die Licht ins Dunkle bringen.
Ihre Pfarrerin Anne Wellmann aus Tönisvorst.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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