denn sie sollen getröstet werden

Sonntagskirche | 20.11.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Karl ist schon eine ganze

Weile tot. Der Schmerz in Lores Herz ist nicht mehr so stechend. Und doch: Sie

lebt jeden Tag mit dem Vermissen. Ihr fehlen sein Lachen und sein Schnarchen

und sein Geruch… Lore mag ihr Leben. Sie kommt zurecht. Und ihre Wochen sind

gut gefüllt. Einkaufen, Kochen, Friedhof und was sie besonders mag: die Nachmittage

beim gemeinsamen Tee mit den Freundinnen und die Tanzabende im Seniorentreff. Doch

immer wieder mal kommt eine Phase, in der die Trauer wieder größer wird. Und dieser

November ist so eine Zeit. Lore hat es erst gar nicht bemerkt, doch ihr Herz fühlt

sich wieder schwerer an. Die Einsamkeit umhüllt sie manchmal wie ein zäher

Nebel. Heute Morgen war sie schon ganz früh auf dem Friedhof. Heute, am Sonntag

vor dem 1. Advent, der Ewigkeitssonntag heißt. Sie hat eine Kerze auf Karls

Grab angezündet. Auf dem Rückweg hat sie ihre Nachbarin getroffen. Die hatte

Blumen zum Grab ihrer Eltern gebracht. Sie sind eine Weile spazieren gegangen. Haben

ein bisschen geredet und auch geschwiegen. Das hat gutgetan. Vielleicht machen

sie das bald nochmal. Als Lore ihre Wohnungstür aufschließt, denkt sie an einen

Satz aus dem Gottesdienst zu Karls Beerdigung:

„Selig sind die da trauern; denn sie sollen getröstet

werden.“ (Die Bibel, Matthäus 5,4)

Der Satz aus der Bibel hat

damals bei der Trauerfeier ihr Herz berührt. Zuhause hat sie ihn in der Bibel

nachgelesen. Und Lore hat ihn abgeschrieben, auf eine Karte, die nun auf ihrem

Nachttisch steht. Dafür hat sie sogar den guten Füller rausgeholt. Den mit der

blau-schwarzen Tinte. Das „g“ von selig, das ist richtig schwungvoll geworden.

Und ein bisschen größer als die anderen Buchstaben. Da steht es: „Selig sind

die da trauern; denn sie sollen getröstet werden.“

Manchmal nimmt sie die Karte

mit dem Satz gar nicht mehr wahr. Und jetzt, jetzt fällt ihr der Satz wieder

ein. Ein Satz der da ist, auf dem sie sich ausruhen kann. Trauern, das ist

etwas, was sie „selig“ macht. Selig – das ist für Lore etwas wie ein tiefes

Glück, ein Glück, das bleibt und trägt. Sie hätte nicht gedacht, dass es so

etwas gibt. Dieses Gefühl und gleichzeitig eine Erkenntnis: dass sie begleitet

und getragen ist, dass da ein Netz ist, das sie auffängt, eine Hand, die sie

hält. Auf eine merkwürdige Art ist sie Karl dankbar für diese Erfahrung. Und

das, obwohl sie natürlich lieber weiter mit ihm leben würde. Und inzwischen

kann sie sogar sagen, dass der Trost, den sie erlebt, Gottes Trost ist.

Tröstlich, wenn schweigen möglich ist, alleine oder mit anderen. Tröstlich,

wenn der Waldboden auf dem Friedhof herbstlich riecht. Tröstlich, wenn das

Telefon klingelt und jemand fragt: „Und, wie geht’s dir heute?“ Tröstlich aber

auch, wenn das Essen endlich wieder schmeckt.

Das Essen, das sie sonst so gerne

mit Karl gegessen hat. Tröstlich, wenn sie es schafft, etwas ganz Neues

auszuprobieren. Die Tanzabende zum Beispiel. Und die Karte auf dem Nachttisch

ist tröstlich – die mit dem Satz aus der Bibel von Karls Beerdigung:

„Selig sind, die da

trauern; denn sie sollen getröstet werden.“

Ich wünsche Ihnen von Herzen einen

tröstlichen Ewigkeitssonntag.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

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  • 20.11.2022
  • Miriam Haseleu
  • © CCO Pixabay
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