Guten Morgen.
Karl ist schon eine ganze
Weile tot. Der Schmerz in Lores Herz ist nicht mehr so stechend. Und doch: Sie
lebt jeden Tag mit dem Vermissen. Ihr fehlen sein Lachen und sein Schnarchen
und sein Geruch… Lore mag ihr Leben. Sie kommt zurecht. Und ihre Wochen sind
gut gefüllt. Einkaufen, Kochen, Friedhof und was sie besonders mag: die Nachmittage
beim gemeinsamen Tee mit den Freundinnen und die Tanzabende im Seniorentreff. Doch
immer wieder mal kommt eine Phase, in der die Trauer wieder größer wird. Und dieser
November ist so eine Zeit. Lore hat es erst gar nicht bemerkt, doch ihr Herz fühlt
sich wieder schwerer an. Die Einsamkeit umhüllt sie manchmal wie ein zäher
Nebel. Heute Morgen war sie schon ganz früh auf dem Friedhof. Heute, am Sonntag
vor dem 1. Advent, der Ewigkeitssonntag heißt. Sie hat eine Kerze auf Karls
Grab angezündet. Auf dem Rückweg hat sie ihre Nachbarin getroffen. Die hatte
Blumen zum Grab ihrer Eltern gebracht. Sie sind eine Weile spazieren gegangen. Haben
ein bisschen geredet und auch geschwiegen. Das hat gutgetan. Vielleicht machen
sie das bald nochmal. Als Lore ihre Wohnungstür aufschließt, denkt sie an einen
Satz aus dem Gottesdienst zu Karls Beerdigung:
„Selig sind die da trauern; denn sie sollen getröstet
werden.“ (Die Bibel, Matthäus 5,4)
Der Satz aus der Bibel hat
damals bei der Trauerfeier ihr Herz berührt. Zuhause hat sie ihn in der Bibel
nachgelesen. Und Lore hat ihn abgeschrieben, auf eine Karte, die nun auf ihrem
Nachttisch steht. Dafür hat sie sogar den guten Füller rausgeholt. Den mit der
blau-schwarzen Tinte. Das „g“ von selig, das ist richtig schwungvoll geworden.
Und ein bisschen größer als die anderen Buchstaben. Da steht es: „Selig sind
die da trauern; denn sie sollen getröstet werden.“
Manchmal nimmt sie die Karte
mit dem Satz gar nicht mehr wahr. Und jetzt, jetzt fällt ihr der Satz wieder
ein. Ein Satz der da ist, auf dem sie sich ausruhen kann. Trauern, das ist
etwas, was sie „selig“ macht. Selig – das ist für Lore etwas wie ein tiefes
Glück, ein Glück, das bleibt und trägt. Sie hätte nicht gedacht, dass es so
etwas gibt. Dieses Gefühl und gleichzeitig eine Erkenntnis: dass sie begleitet
und getragen ist, dass da ein Netz ist, das sie auffängt, eine Hand, die sie
hält. Auf eine merkwürdige Art ist sie Karl dankbar für diese Erfahrung. Und
das, obwohl sie natürlich lieber weiter mit ihm leben würde. Und inzwischen
kann sie sogar sagen, dass der Trost, den sie erlebt, Gottes Trost ist.
Tröstlich, wenn schweigen möglich ist, alleine oder mit anderen. Tröstlich,
wenn der Waldboden auf dem Friedhof herbstlich riecht. Tröstlich, wenn das
Telefon klingelt und jemand fragt: „Und, wie geht’s dir heute?“ Tröstlich aber
auch, wenn das Essen endlich wieder schmeckt.
Das Essen, das sie sonst so gerne
mit Karl gegessen hat. Tröstlich, wenn sie es schafft, etwas ganz Neues
auszuprobieren. Die Tanzabende zum Beispiel. Und die Karte auf dem Nachttisch
ist tröstlich – die mit dem Satz aus der Bibel von Karls Beerdigung:
„Selig sind, die da
trauern; denn sie sollen getröstet werden.“
Ich wünsche Ihnen von Herzen einen
tröstlichen Ewigkeitssonntag.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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