Der Physiotherapeut kommt
Charlotte besuchen und fragt nach der Krankenkassenkarte. Charlotte ist 86
Jahre alt und fast blind. Nervös sucht sie in ihrem Mäppchen. Ich unterstütze
Charlotte im Alltag und biete ihr an, auch zu suchen, finde aber nichts.
„Ach, die Karte hast du
bestimmt dem Arzt gestern gegeben.“, meint ihre Nachbarin, die ebenfalls zur
Unterstützung da ist. „Nein“, sagt Charlotte und fängt an zu zittern. Sie ist
sehr krank und nimmt sich vieles sehr zu Herzen. „Ach, wenn die Karte nicht
mehr da ist, dann organisieren wir eine neue.“, versuche ich sie zu beruhigen.
„Nein, bloß nicht“, sagt sie, „das dauert ewig, ich bin mir sicher, dass ich
sie in das Mäppchen gemacht habe.“ „Da ist sie aber nicht“, sagt die Nachbarin,
„du hast vergessen, wo sie ist.“ „Nein“, sagt Charlotte, „ich weiß es, sie muss
hier in dem Mäppchen sein.“ Und sucht selbst noch mal nervös darin herum.
Die Nachbarin und ich werden
ungeduldig. „Jetzt hör aber auf“, sagt die Nachbarin, „da ist sie doch nicht!“
Charlotte sucht wild in dem Mäppchen weiter. „Ihr wollt mich wohl für dumm
verkaufen!“, sagt sie und wir schütteln alle ratlos den Kopf.
Dann reißt sie voller Panik
fast das Mäppchen auseinander und schwupp fliegt die Krankenkassenkarte auf den
Tisch. Sie hat es ganz genau gewusst und hat sich nicht von ihrer Überzeugung
abbringen lassen. Was für eine Kraft, was für eine Würde, was für eine Frau.
Sie wusste es besser als wir alle und sie hat gefunden, was sie gesucht hat,
und ich glaube, noch viel mehr.
Sprecher: Jan Primke
Redaktion: Daniel Schneider
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