Guten
Morgen.
Autsch.
Das hat gesessen. Fettnäpfchen Alarm.
Meine
Freundin dreht sich um… Sie ist schon über 80. Sie ist bei mir zu Besuch und
macht sich von hier aus auf den Weg nach England. Mit Bus und Bahn. Rucksack
auf dem Rücken, Handtasche um, Koffer. Los geht’s. Wir stehen im Flur. Sie geht
voran, und ich sage: „Wie toll, dass Du noch solche Reisen machst.“ Sie dreht
sich um. Wenn Blicke töten könnten. „Als ich Lehrerin war, habe ich meinen
Schülerinnen und Schülern gesagt: Ihr dürft ein Wörtchen nicht sagen, wenn ihr
mit alten Menschen sprecht. Das Wörtchen heißt `NOCH`.“ Mir wird heiß und kalt
und ich werde rot… und bin verlegen. Habe verstanden. „NOCH“. Noch kann ich
das, sage ich selbst manchmal.
Ich
denke, grundsätzlich ist das „NOCH“ kein schlechter Ratgeber: Denn es sagt ja:
Denk dran, nicht alles ist ewig. Die Kraft, die Gesundheit, die Lust und Neugier
auf so vieles. Deshalb genieße das alles, solange du es hast. Und stelle dich
gleichzeitig drauf ein, dass es einmal anders sein kann oder wird. Gleichzeitig
kann das „NOCH“ mich auch lähmen. Ein Hauch von Trauer und Melancholie liegt in
der Luft. Vielleicht meine letzte Reise… Das mag realistisch sein. Aber mir
entzieht das auch Kraft. Es motiviert mich nicht. Ich bin motiviert, wenn ich
Pläne mache. Pläne machen. Die großen, die noch viel Zeit brauchen und die
kleinen, die ich schon heute verwirklichen kann. Und diese Pläne nicht zu klein
machen. Denn große Pläne ziehen mich weiter. Man nennt das auch Sehnsucht. Das
Wörtchen NOCH erstickt jede Sehnsucht. Und die Sehnsucht, sie ist – so sagte es
der Philosoph Ernst Bloch einmal – die Sehnsucht ist die ehrlichste Eigenschaft
des Menschen. (1) Die Sehnsucht treibt mich an, mich nicht mit dem Alltäglichen
abzufinden. Sie treibt mich an, mit mehr zu rechnen, als ich selbst bin und aus
meiner Sicht gerade sein kann. Die Sehnsucht macht Pläne und hängt sie an den
Himmel wie einen Stern. Und ich kann meinen müden Seelenkarren an diesen Stern
hängen und mich von ihm ziehen lassen. Nach dem Motto von Leonardo da Vinci:
"Binde deinen Karren an einen Stern.“ (2) Das Schwere des Erdenlebens, das
elende Wörtchen „NOCH“ mit seiner Drohkulisse von „bald ist es zu spät“ oder
„bald geht das gar nicht mehr“, einfach mal abhängen und mich lieber an einen
Stern binden. Mich ausstrecken nach dem oder der da oben. Dann geschehen
wunderbare und völlig unerwartete Dinge. In der Bibel lese ich davon, wie ein
altes Paar ein Kind bekommt. Hups. Fast hätte ich gesagt „wie ein altes Paar
NOCH ein Kind bekommt“. Klar, gemessen am Durchschnittsfruchtbarkeitsalter ist
es zu spät. Und doch bekommen sie ein Kind. Gemessen am Durchschnittslebensalter
ist es ein bisschen verrückt, wenn man mit über 80 auf Berge steigt, Reisen mit
Rucksack und Koffer per Bahn unternimmt und mit dem Sohn einen
Gleitschirmsprung wagt. Doch mit diesem Maß misst Gott nicht. Er setzt auf
meine Sehnsucht. Die mir manchmal mehr möglich macht, als ich mir erlaube zu
träumen.
Deshalb:
Ehre die Alten, sagt Gott. Und meint damit auch: Nimm ihnen nicht ihre
Sehnsucht. Und das heißt: Lass das Wörtchen NOCH doch bitte in der Schublade,
wenn du mit ihnen sprichst. Und für dich selbst kannst du das auch gleich mal
dort lassen.
Ich
wünsche Ihnen Sehnsüchte und Pläne, die Ihnen Lust am Leben machen. Und dass
Gott Ihnen Wege zeigt, wie Sie sie verwirklichen können.
Ihre
Petra Schulze, Rundfunkpfarrerin in Düsseldorf.
(1) Zitiert nach: Anselm Grün: Das kleine Buch der Sehnsucht, III. Im
Innersten berührt: Die
ehrlichste Eigenschaft, Verlag Herder; Auflage: 1 (8. Dezember 2009).
ISBN-13:978-3451071041.
(2) https://www.aphorismen.de/zitat/23283
(abgerufen am 12.07.2022)
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58816_WDR3520220726Schulze.mp3