Gnade vor Recht

Kirche in WDR2 | 21.05.2022 | 00:00 Uhr

Post aus Süddeutschland.

Absender: ein Anwalt, dessen Name mir gar nichts sagt. Sicher nicht so wichtig,

denke ich. Erst zwei Tage später öffne ich den Brief. Und erschrecke. Ein

Verstoß wegen Nichtzahlung der Mautgebühr in Italien. Ich soll zahlen. Dank

allerlei Gebühren und Auslagen hat sich die eigentliche Autobahngebühr

verzehnfacht. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen, wo eh schon alles teurer

wird.

Ich krame in meinem

Gedächtnis. Ja, da ist etwas gewesen, letzten August. Um zu tanken, müssen wir

raus. Aber an der Ausfahrt keine Möglichkeit zum Zahlen. Nur die Schranke und

eine Klingel. Also klingeln wir und weiter geht die Fahrt.

Ich denke, einen Versuch ist

es wert und rufe den Anwalt an. Und – o Wunder – die nette Dame am anderen Ende

hört zu und hat Verständnis. Ich muss nur die fehlende Autobahngebühr

nachzahlen, plus Halterermittlung.

Sie hat meinen Tag gerettet.

Zum einen wegen des Geldes. Aber auch, weil ich mich so freue, dass es das noch

gibt. Mal Fünfe gerade sein lassen. Gnade vor Recht ergehen lassen. Das klingt

vielleicht etwas pathetisch, aber sind wir nicht alle richtig glücklich, wenn

es passiert? Wenn die Chefin einen nicht ständig daran erinnert, dass das

letzte Projekt daneben ging. Wenn der Partner verständnisvoll ist, obwohl die

neuen Schuhe sündhaft teuer sind. Wenn Lügen auffliegen und wir trotzdem noch

Freunde bleiben.

Nicht, dass wir uns jetzt

falsch verstehen. Recht und Gerechtigkeit sind ein hohes Gut. Und es sollte

immer in den Händen der Betroffenen liegen, ob sie Gnade walten lassen oder verlangen,

was ihnen zusteht.

Doch Gnade,

gnädig sein, ist ein wichtiger Grundzug im menschlichen Miteinander. Schon die Bibel

erzählt davon. Am schönsten vielleicht in der Geschichte vom „Verlorenen Sohn“

(Lukas 15). Der hat sich sein Erbe schon vor dem Tod des Vaters auszahlen

lassen. Damit geht er ins Ausland und lebt in Saus und Braus. Klar, schon bald

ist alles Geld futsch, verprasst. Eine Hungersnot bricht aus. Der Sohn erinnert

sich an sein Zuhause und kehrt zurück. Sein Vater läuft ihm entgegen. Er könnte

ihn jetzt zurechtweisen: „Was willst Du? Hau ab. Wir sind quitt.“ Aber das

Gegenteil passiert: Er umarmt seinen Sohn und sie feiern ein großes Fest.

Gnade

vor Recht: Sein Vater lässt ihn trotz seines Verhaltens nicht büßen. Obwohl es

auch nach heutigen Maßstäben dumm und egoistisch war. Gnade vor Recht:

Vielleicht haben auch Sie schon einmal jemanden glücklich gemacht, indem Sie auf

ihre Ansprüche verzichtet haben? Oder denken bei der nächsten Gelegenheit darüber

nach. Ich werde es versuchen. Und dabei an die nette Anwältin denken.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

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  • 21.5.2022
  • Uta Garbisch
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