Autorin: Zusammen mit der Konfirmandengruppe habe ich das erste Taufregister
unserer Kirchengemeinde aus dem Stahlschrank geholt. Ehrfürchtig betrachten die
Jugendlichen das riesige, in helles Leder gebundene Buch. Es ist von 1901.
Innen sind in akkurater Handschrift die Taufen des Jahres verzeichnet. Ich muss
beim Lesen ein bisschen helfen, denn alles ist in Sütterlin-Schrift
geschrieben, und das ist für Konfirmanden ziemlich fremd. Fremd und
geheimnisvoll. Fasziniert entschlüsseln sie, was in den einzelnen Spalten
steht: Name des Täuflings, Geburtstag und Tauftag, Eltern, sogar deren Berufe,
Paten und Patinnen, der Taufspruch. Und dann gibt es noch eine weitere Spalte,
über der „Bemerkungen“ steht. Die Jugendlichen entdecken, dass sehr viele
Kinder innerhalb der ersten Lebensjahre wieder gestorben sind. Todesursache:
oft ein Lungenleiden. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es noch kaum medizinische
Möglichkeiten, einer Lungenentzündung oder gar der Tuberkulose zu begegnen. –
Ich sehe, wie es in den Jugendlichen arbeitet. Kinder werden getauft – und dann
sterben sie wieder? Was gibt oder nützt dann die Taufe?
Genau diese Frage hat Martin
Luther auch schon gestellt. In seinem Kleinen Katechismus erklärt er den
Menschen seiner Zeit, was die Taufe bedeutet und was nicht. Gegen Ende seines
Lebens hat er dazu auch noch ein wunderschönes Lied geschrieben: „Christ, unser
Herr, zum Jordan kam“.
Musik 1 Christ, unser Herr, BWV 648, nur 1. Strophe,
Solostimme
Christ unser Herr zum Jordan
kam (BWV 684); Komponist: Johann Sebastian Bach; Text: Martin Luther;
Interpreten: Sophie Harmsen, Mezzosopran; Matthias Ank, Orgel; Label: Carus;
LC: 03989
Autorin: Die Sprache kommt aus einer anderen Zeit, sicherlich.
Aber die Melodie hat mich von Anfang an fasziniert. Eine große Weite klingt
darin mit, etwas Geheimnisvolles, und im zweiten Teil mit seinen Sprüngen ein
kecker Mut. Beides passt zur Taufe. Gott gibt das Versprechen, bei mir zu sein,
wohin ich auch gerate. Das gibt meinem Leben Halt. Zugleich: Ich bin Gott
recht. Ich muss nicht zuerst etwas beweisen, sondern er hat mich schon ins Herz
geschlossen, als ich noch nichts von ihm wusste. Das gibt mir Mut. „Ich bin
getauft!“ soll Martin Luther mit Kreide vor sich auf den Tisch geschrieben
haben, als er angegriffen und in die Enge getrieben wurde. Daran hat er sich
festgehalten, das hat ihn davor bewahrt aufzugeben. Ob das nun historisch ist
oder nicht, es beschreibt jedenfalls den Halt, den die Zusage Gottes gibt.
Dann, wenn mir alles, was ich für sicher gehalten habe, um die Ohren fliegt und
ich spüre, wie wenig die eigene Weisheit und die eigenen Kräfte vermögen.
Luther hat diesen Halt nicht nur vor dem Reichstag gebraucht, in den großen
Auseinandersetzungen der Reformation, sondern auch, als ihm seine Tochter
starb. Er wollte diese Gewissheit mit anderen teilen und erklärt deshalb in den
folgenden Strophen, was sie bedeutet.
Musik 1 (instrumental)
Sprecherin (overvoice) Strophen 2 und 3:
So hört und merket alle wohl, was Gott selbst Taufe
nennet, und was ein Christe glauben soll, der sich zu ihm bekennet. Gott
spricht und will, dass Wasser sei, doch nicht allein schlicht Wasser, sein
heiligs Wort ist auch dabei mit reichem Geist ohn Maßen: Der ist allhier der
Täufer.
Solchs hat er uns gezeiget klar mit Bildern und mit
Worten. Des Vaters Stimm man offenbar daselbst am Jordan hörte; er sprach: „Das
ist mein lieber Sohn, an dem ich hab Gefallen; den will ich euch befohlen han,
dass ihr ihn höret alle und folget seinen Lehren.“
Autorin: Für mehr als 200 Jahre war dieses Lied so etwas wie die Zusammenfassung
der lutherischen Tauflehre: Gott nimmt Menschen in der Taufe als seine Kinder
an wie er Christus selbst als Sohn angenommen hat. Viele Komponisten haben sich
darauf bezogen, Johann Sebastian Bach z.B. gleich dreimal, unter anderem mit
einer Choralkantate zum Tag Johannes des Täufers am 24. Juni.
Musik 2 Kantatenbeginn BWV 7
Christ unser Herr zum Jordan
kam (BWV 7); Komponist: Johann Sebastian Bach; Text: Martin Luther; Interpreten:
Chorus Musicus Köln; Das neue Orchester; Leitung: Christoph Spering; Label:
Harmonia Mundi; LC: 00761
Autorin: Mich berührt an diesem Lied, wie fürsorglich Luther im Gespräch mit den
Menschen ist, wie er erklärt, mit Bildern und indem er die biblische Geschichte
erzählt. Mit der Sprache der Lutherzeit und auch mit der Melodie werde ich
vermutlich weder Konfirmanden noch Tauffamilien glücklich machen. Trotzdem
steht das Lied bis heute in unserem Gesangbuch. Ich verstehe das Lied als Stimme
meiner Väter und Mütter im Glauben. Es zeigt mir, woher ich komme, und es legt
mir nahe, meinerseits zu überlegen, wie ich heute von der Taufe sprechen kann,
so dass die Menschen meiner Zeit sie verstehen können.
Musik 2
Sprecherin (overvoice)
Sein Jünger heißt der Herre
Christ: „Geht hin, all Welt zu lehren, dass sie verlorn in Sünden ist, sich
soll zur Buße kehren; wer glaubet und sich taufen lässt, soll dadurch selig
werden; ein neugeborner Mensch er heißt, der nicht mehr könne sterben, das
Himmelreich soll erben.“
Autorin: Was brauchen Jugendliche, wenn sie erschrocken darüber sind, dass die
Taufe offenbar nicht davor schützt, dass Menschen, auch Kinder, sterben? Welche
Bilder sind heute für sie hilfreich? – In unserer Kirchengemeinde gibt es vor
dem Gemeindezentrum einen robusten Bauzaun. Der steht nicht nur vorübergehend
da, sondern immer. An ihm sind kleine Schlösser befestigt. Solche, wie man sie
an Brückengeländern findet. Liebesschlösser sind es dort: Zwei bekennen einander
ihre Liebe, bringen ein Schloss am Geländer an, auf dem die Namen eingraviert
oder wenigstens mit Edding draufgeschrieben sind, und oft werfen sie
anschließend den Schlüssel in den Fluss: „Das ist für immer!“ soll das heißen.
Auf den kleinen Schlössern an unserem Bauzaun stehen die Namen der getauften
Kinder und das Taufdatum. „Ins Herz geschlossen“ steht auf einem Holzbalken
quer über dem Zaun. Gott schließt einen Menschen in sein Herz, und die Taufe
macht das öffentlich: Es ist für immer. Gott liebt dich. Er hat Sehnsucht nach
dir. Er wartet, ob du ihm wohl antwortest.
Musik 3 Orgel
Christ unser Herr zum Jordan kam; Komponist: Hieronymus Praetorius; Interpret:
Friedhelm Flamme (Orgel); Label: cpo; LC: 08492.
Autorin
(overvoice): Ich schaue den Jugendlichen am Ende des Vormittages über die Taufe
zu. Sie sitzen am Tisch und fädeln Ketten auf. In der Mitte steht eine große
Schale mit den unterschiedlichsten Perlen: Aus Holz, Keramik, Plastik, klein,
groß, glitzernd, dunkel oder in allen Regenbogenfarben. Für jedes gelebte Jahr
suchen die Jugendlichen sich eine Perle und beginnen dabei zu erzählen: „Die
Glitzerperle, das ist das Jahr, in dem ich zur Welt kam.“ „Hier, die rote, das
ist das Jahr, in dem ich meinen Hund bekommen habe.“ „Die schwarze da, da haben
meine Eltern sich getrennt.“ „Diese bräunliche Perle, naja, da hat die Schule
angefangen…“ – Dreizehn Perlen, so denke ich, das ist schon ziemlich viel Leben
mit Höhen und Tiefen. Ich wünsche den Konfirmanden von Herzen, dass noch viele
Perlen auf ihrer Lebenskette dazu kommen. Und ich bin beruhigt: Durch alle
zieht sich wie die Schnur die Zusage Gottes bei der Taufe hindurch: „Ich bin
bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth