Autor: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht
abweisen“ Das ist die Jahreslosung für das Jahr 2022. Schon seit Wochen
gibt es Bilder und Grafiken, Poster und Postkarten, mit diesem biblischen Motiv
für das neue Jahr. Mal sieht man eine geöffnete Tür, mal eine ausgestreckte
Hand, mal ein Schlauchboot mit Geflüchteten im Mittelmeer. Und dazu jedes Mal
diesen Satz: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht
abweisen.“
Musik
1: Morgensol – Bolethe Kristensen
Titel: Morgensol;
Komposition/Interpretin: Bolethe Kristensen; Album: Morgensol Label: 2019
Bolethe Kristensen; LC: unbekannt.
Autor: Abgewiesen, das tut weh…sehr weh. Und das vergisst man so rasch auch
nicht mehr. Wie denn auch… also, ich möchte nie abgewiesen werden. Passiert ist
es mir dennoch, schon mehrere Male in meinem Leben bin ich abgewiesen worden.
Angefangen in meiner Zeit als Jugendlicher, da hatte ich mich unsterblich in ein
zwei Jahre älteres Mädchen verliebt, eine 16-jährige, die von allen begehrt und
ersehnt war. Doch war ich seinerzeit nicht die Nummer 1. Ich war die Nummer 4,
was mir so gar nicht gefiel. – Dann zu Beginn meines Studiums: An der
kirchlichen Hochschule Wuppertal konnte ich im Sommer 1985 nicht landen, es war
schon alles voll, ich kam zu spät… Und schließlich: Aus meinem festen Ferienjob
in Hamburg flog ich auf einmal raus, Einsparungen, Umstrukturierungen, Synergieeffekte.
Ich wurde nicht mehr gebraucht. …Egal, warum und wieso: ich war abgewiesen….
Natürlich werden viele Menschen das so erlebt haben, immer wieder einmal, aber
wenn es einem selbst passiert, tut es besonders weh.
Abgewiesen zu
werden, das gehört zum Leben dazu. Wie gehen wir damit um? Was passiert in
einem solchen Moment mit uns? Wie verkraften wir eine solche Schelte, wie
verarbeiten wir eine solche Zurückweisung? Und vor allem: Was hilft?
Musik 2: Sunrise – Tom Brown Sterling
Titel: Sunrise; Komposition: John de Lira;
Interpret: Tom Brown Sterling; Album: Sunrise – Single; Label: 2020 Tom Brown
Sterling; LC: unbekannt.
Autor: Abgewiesen… was passiert da mit mir? – Eigentlich könnte man sich doch
zurücklehnen in dem Bewusstsein: Eine WEISUNG jedweder Art ist doch oft richtig
und zielführend. Da haben wir die Zu-WEISUNG, die An-WEISUNG, die Über-Weisung oder
die WEISUNG an und für sich. Da passiert etwas Produktives. Jede Art der
Weisung hat ihren Plan, ihre Idee, ihre Vision. Da soll jemand hingewiesen
werden auf eine Vereinbarung, auf eine zielführende Idee oder auf ein
Versprechen. Doch genau damit fangen die Schwierigkeiten an, wie soll man das
erkennen, darauf reagieren, diese Vorstellung umsetzen?! Wie sieht die WEISUNG
dann konkret aus?
Ein Beispiel: Sasha
Stanisic erzählt die Geschichte seiner Familie, hin und her bewegt er sich
zwischen winzigen bosnischen Dörfern und deutschen Städten, zwischen der Erfahrung,
fliehen zu müssen und dem Gefühl, anzukommen und willkommen zu sein. Stanisic
wurde 1978 in der bosnischen Kleinstadt Visegrad geboren. Als 1992 dort der
Krieg ausbricht, flieht seine Mutter mit ihm, dem damals 14-jährigen, vor den
Bomben nach Heidelberg, wo ein Onkel lebt.
Eine Wohnung findet die Familie etwas
außerhalb, im Emmertsgrund, dessen hohe Betonbauten von weither zu sehen sind. Und
in dieser unwirtlichen Gegend trifft Sasha einen Mann, der über den Zaun ein
Gespräch mit ihm beginnt. Was Sasha nicht weiß, dieser Fremde ist Zahnarzt und
sieht sofort, dass Sasha wohl noch nie eine Zahnarztpraxis aufgesucht hat, weil
die Familie dafür einfach kein Geld hat. – Schon bald darauf behandelt dieser
Zahnarzt nicht nur Sasha, sondern seine ganze Familie; und das, ohne etwas
davon in Rechnung zu stellen. Und damit nicht genug: Auch zum Angeln lädt er den
kleinen Jungen samt seinem Opa ein. Denn gibt es belegte Brote sowie
ausreichend Saft und Bier. Sasha Stanisic erzählt seine Geschichte in einem
Buch. Für sein Werk „Herkunft“ erhält er 2019 den deutschen Buchpreis.
Welchen Namen der
Zahnarzt hatte, erfahren wir nicht. Sasha Stanisic nennt ihn einfach: „Dr.
Heimat“. Dieser fremde Mann hatte dem Jungen vermittelt, was das Wort „Heimat“
bedeutet, nämlich: Ins Haus hineingeholt, wenn man selbst kein Zuhause hat. So
verstanden heißt Heimat: Besitz und Begabung, Alltag und Leben zu teilen.
Heimat nimmt wahr, was für die Heimatverlorenen not-wendig ist und ihre Not
wenden kann.
Sasha Stanisic hat inzwischen
hier in Deutschland ein Zuhause gefunden. Natürlich hat dieses Empfinden vor
allem damit zu tun, dass er Dr. Heimat begegnet ist. Diese Zeit hat in ihm
Sehnsucht und Heimweh, Zuversicht und Traurigkeit zugleich zum Vorschein
gebracht und am Ende miteinander versöhnt. Er ist angekommen und zuhause.
Musik
3: Seaside – Alfie Russell
Titel: Seaside;
Komposition: Alfie Russell; Interpret: Alfie Russell; Album NEW AGE 2020 –
Single; Label: 2020 Alfie Russell; LC unbekannt
Autor: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den
werde ich nicht abweisen“. – Wer kann das von uns schon in dieser Klarheit sagen?
„Wer zu mir kommt, den werde ich
nicht abweisen…“ – Ich selbst sehe da einige Widerhaken und Bremsklötze.
Mal ganz ehrlich: Es gibt Menschen, die wir lieber abweisen und nach Hause
schicken möchten, sollten sie allen Ernstes vorhaben, zu uns zu kommen. Es gibt
sie ja, diese ganz abstrusen, abgefahrenen, undurchsichtigen und vor allem
unbequemen Mitbürger. Manchmal tun sie sogar, als seien sie Freunde. Früher sagte
man: „Die würde ich auf den Mond schießen“ oder ironisch: „Die können mich mal
gernhaben“ oder ganz direkt: „Die können mir gestohlen bleiben“… Wie gehen wir
mit ihnen um, was sagen wir ihnen? Manche gehörten vielleicht mal zu uns, aber
da ist längst etwas zerbrochen, was nicht mehr zu heilen ist. Und wenn sie nun
doch so etwas wie Nähe, Begleitung, Aufmerksamkeit und Empathie suchen… wie
reagieren wir darauf? „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen?“
Von wegen. Das ist gar nicht so leicht.
Musik
4: Rèves d’éternité – Amélie Chantal
Titel: Rèves
d’éternité; Komposition: Amélie Chantal; Interpret: Amélie Chantal; Album:
Rèves d’éternité – Single; Label: 2020 AmélieChantal; LC: unbekannt
Autor: Noch so eine Geschichte: Ein jüdischer Großvater
zündet jede Woche vor Beginn des Schabat, also am Freitagnachmittag, zwei
Kerzen für sich und seine Enkelin an. Dann legt er ihr die Hände auf und segnet
sie. Das tut er sehr ausführlich und mit Bedacht. Und jedes Mal ist das Mädchen
gespannt, was sie heute über sich selbst erfahren wird. Und ja… Woche für Woche
preist der alte Mann Gott dafür, dass es seine Enkelin gibt. In den höchsten
Tönen lobt er sie vor dem Angesicht des Höchsten. Er hebt ihren Mut hervor und
bestärkt ihr Bemühen, die Dinge in ihrem Leben zu sortieren und voranzutreiben.
– Und durch seine Sicht auf das, was sie erlebt hat, sieht sich die Enkelin
selbst mit neuen Augen an. Nie fragt der Opa, ob sie denn in der Schule genug
getan und sich ausreichend angestrengt hat. Wichtig für ihn ist nur, DASS sie
da ist. – Der Segen ihres Großvaters bleibt bei dem Mädchen haften, auch als er
einige Jahre später stirbt. Er hat sie bereits mit seiner Liebe gezeichnet und
sie gesegnet. In ihr hat sich dadurch ein „Herzlich willkommen“ eingeprägt. Seine
Sicht auf das Leben hat sich bei dem Mädchen verinnerlicht. Der Großvater ist
durch diese Segenshandlung zu einem Teil von ihr selbst geworden. Seine Stimme
hatte immer neu bekräftigt, wie schön es ist, dass sie da ist. Sie wohnt nun
für immer in ihr. Sein Segen wird sie gewissermaßen wärmen, ein Leben lang. Das
Mädchen hatte spüren können, was die Worte Jesu für sie bedeuten: „Wer zu
mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Viele Jahre ist es
her, seit ich diese Erzählung von Rachel Naomi Remen gelesen habe. Natürlich
habe ich sie seitdem nicht mehr vergessen. Für mich ist es so, als ob die
Enkelin diesen Segen ihres Großpapas weiterreicht, damit auch andere Menschen
einen neuen Blick auf sich selbst gewinnen können. Diese Geschichte ermutigt
mich, genauso herzlich und unvoreingenommen mit meinen Lieben umzugehen, weil
ich sie nur eine Zeit meines Lebens begleiten werde. Da sind die Eltern, die
bald gehen werden, die Kinder, die mich nicht mehr brauchen, die Enkel, denen
ich vielleicht nur auf Abstand und für gewisse Zeit ein Großpapa sein werde.
Ihnen zur Seite zur stehen, sie zu unterstützen, zu herzen, zu stärken und zu
ermutigen, das ist meine Aufgabe hier auf Erden. Sie nicht abzuweisen in der Nachfolge
Jesu. Ich möchte mir diese Weisung ganz bewusst im Neuen Jahr auf die Fahne
schreiben, mir diese Geschichte zu eigen machen.
Musik
5: Firmamentum Mysteria – Arlo Thiem
Titel: Firmamentum
Mysteria; Komposition: Arlo Thiem; Interpret: Arlo Thiem; Album: Spirit of Hule
2021, Label POP 2021 Arlo Thiem; LC: unbekannt
Autor: Und wie ist es umgekehrt? Die meisten haben schon
mal erlebt, wie das ist, kurz vor Geschäftsschluss noch eben hineingelassen zu werden.
Oder aber in einer Behörde, zur Verlängerung des Personalausweises, des
Reisepasses oder anderer wichtiger Dokumente. Oder aber in ein Krankenhaus
hineingelassen zu werden, auch wenn die Besuchszeit längst vorbei ist. Ein
gutes Gefühl, noch hineinzukommen und mit dem Anliegen „zu landen“.
Es gibt aber auch
andere Situationen, die vielen schon etwas mehr bedeuten: Jemand ist umgezogen
und sucht Anschluss. Kommt er hinein in diesen Freundeskreis, wird sie
eingeladen zum Theater-Abo und zu Geburtstagsfeiern? Davon hängt viel ab. Es
ist ein Risiko. Diejenigen, die jemanden hineinlassen, öffnen sich, riskieren
etwas. Und der oder die aufgenommen werden will ebenso. Und was ist, wenn ein
Paar sich getrennt hat: Wer wird jetzt zu wem eingeladen? Werde ich vielleicht
nicht offen abgewiesen, aber doch irgendwann „vergessen“?
Und schließlich gibt
es Situationen, in denen jemand Hilfe braucht. So wie die geflüchtete Familie
aus Bosnien. Der Patient mit Atemnot im überfüllten Krankenhaus. Der Mann,
Mitte 50, der das erste Mal zur „Tafel“ geht. Die Angehörigen, die eben noch
ihre Mutter im Krankenhaus besuchen wollen. Nicht abgewiesen zu werden: Das ist
ein gutes Gefühl für mich, wenn ich in Not bin und Heimat suche. Und es ist ein
selbstverständlicher Auftrag für uns Christenmenschen. Genau hinzusehen und
zuzuhören, wenn jemand kommt und Heimat sucht. Denn Jesus Christus spricht: „Wer
zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“
Musik 6: Journey in Place – Walter Groenig
Titel: Journey in
Place; Komposition: Walter Groenig; Interpret: Walter Groenig; Album: Ambient,
2020; Label 2020 Walter Groenig; LC unbekannt
Autor: „Wer zu
mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Das konnten Menschen in der Nähe
Jesu tatsächlich erleben. Viele biblische Geschichten erzählen davon. Zum
Beispiel die vom blinden Bartimäus. Er ist blind von Geburt an. Bartimäus sitzt
allein an einer Straße auf einer Decke , um nach Almosen und Zuwendung zu
betteln. Doch eines Tages hört er, denn das kann er besonders gut, dass Jesus
in die Stadt kommt. Als er Jesus und seine Jünger durch seine Straße ziehen
hört, ruft er. Doch nichts geschieht. Er ruft lauter: Jesus, Jesus. Wieder
kommt keiner zu ihm. Jesus fragt zwar, wer denn da nach ihm ruft, doch seine Freunde
winken ab mit dem Kommentar: Das ist nur ein armer blinder Bettler. Daraufhin
nimmt Bartimäus nun seinen ganzen Mut und seine ganze Kraft zusammen und brüllt
geradezu los: Jesus, Jesus, erbarme dich meiner. Nun bleibt Jesus stehen und
schaut nach ihm. Er wendet sich ihm zu und fragt: Was willst du, dass ich für
dich tun soll? Bartimäus erkennt und nutzt seine womöglich einzige Chance,
einmal in seinem Leben Sehen zu können. Er bittet Jesus um Heilung. Und genau
so geschieht es auch: Bartimäus wird sehend. Und Jesus fügt hinzu: Und nun geh
hin, dein Glaube hat dir geholfen.
Jesus hat ihn
nicht abgewiesen, so wie die Jünger, im Gegenteil, er hat sich seiner
angenommen: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ – So wie es auch
Sasha Stanisic bei „Dr. Heimat“ und die Enkeltochter bei ihrem Großpapa
erfahren haben: Nicht abgewiesen sondern aufgenommen zu werden. Das bleibt ein
grundlegendes, menschliches Bedürfnis von uns allen.
Noch ein
letzter Aspekt ist mir wichtig im Blick auf die Jahreslosung aus Johannes 6. Was
mir in dieser besonderen und herausfordernden Zeit hilft, ist das GEBET. Ich stelle
mir vor, dass ganz viele im Gebet um Gottes Nähe und Zuspruch bitten. Es sind
Worte, die in besonderer Weise in diese verrückte und unbequeme Zeit hineingesprochen
werden.
„Guter Gott,
wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Jahr. Viel Leid und Trauer aus den
vergangenen Monaten lässt uns eher vorsichtig und zögerlich das neue Jahr
begrüßen. Die Folgen der Corona-Pandemie sind bei weitem noch nicht
abzuschätzen. Entwarnung ist noch lange nicht in Sicht. Wir blicken mit großer
Sorge in das Neue Jahr. Und deshalb wende ich mich heute an dich, den Schöpfer
der Welt, den Vollender allen Seins, den Bewahrer des Lebens. Lass uns nicht
allein in den zu erwartenden Ereignissen des neuen Jahres. Gib uns alles das,
was wir dazu brauchen an Kraft, an Liebe, an Verständnis, an Geduld aber auch
an Neugier, um den neuen Situationen begegnen zu können. Wir brauchen deine
Begleitung und deinen Zuspruch, um das Leben annehmen zu können, wie du es uns
zumutest, wie du es uns schenkst. Denn dessen sind wir gewiss: Du wirst unser
Flehen, unser Bitten und unsere Bedürftigkeit nicht abweisen, sondern annehmen.
Wie dein Sohn Jesus Christus uns zugesagt hat: Wer zu mir kommt, den werde ich
nicht abweisen“ so glauben wir fest an deine Begleitung und Fürsorge. Darauf
vertrauen wir, darauf bauen wir. AMEN“
Aus
Düsseldorf-Gerresheim grüßt Sie zu Beginn des Neuen Jahres 2022 herzlich.
Ihr Pfarrer Rainer Withöft
Musik 7: Birdman – Abbie Lou Johnston
Titel: Birdman; Komposition: Abbie Lou Johnston; Interpret:
Abbie Lou Johnston; Album: New Age 2020; Label: Abbie Lou Johnston; LC
unbekannt
Quellen:
Saša Staniši?, “Herkunft”, München 2019
Rachel Naomi Remen: “My Grandfather’s Blessing” Riverhead Books; San Francisco 2001.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus
Reinmuth