Platzsuche

Das geistliche Wort | 05.12.2021 | 00:00 Uhr

Autorin: Letzte Woche im ICE. Freitag Spätnachmittag. Der

Zug ist voll. Ich stehe noch im Gang und suche meinen Platz. Da höre ich es

hinter mir ungeduldig murren, „Sie können doch wohl nicht auch die 61 haben“.

Nein, natürlich nicht. „Bin schon weg“ murmele ich und suche auf dem Handy nach

meiner Sitzplatzreservierung. Gerade in Zeiten von Corona bin ich froh, bei der

Buchung daran gedacht zu haben. In der Bahn, im Restaurant, in der Schlange

beim Einkaufen: Zugewiesene Plätze sind mir seit Monaten vertraut. Platzsuche,

denke ich. Passt irgendwie in die Zeit im Advent. Ich bin auf der Suche und

weiß noch nicht einmal wonach genau, nach welchem Platz. Hier im Zug löst sich

die Frage schnell. Bald finde ich den Sitz mit der richtigen Nummer. Ich

verstaue meine Tasche und lasse mich fallen. Auch der Mann auf Platz 61 guckt erleichtert,

der Zug setzt sich in Bewegung. Für die nächsten vier Stunden ist das mein

Platz.

Den

eigenen Platz finden. Ich komme ins Nachdenken. Es gibt viele Menschen, die

ihren Ort noch nicht gefunden haben. Im wahren wie im übertragenen Sinn. Junge

Menschen auf der Suche nach ihrem Platz im Leben. Welchen Beruf will ich

wählen? In welcher Stadt möchte ich wohnen? Mit wem meine Wege, oder zumindest

ein Stück davon, gemeinsam gehen? „Wo ist mein Platz?“ Das fragen sich auch

Ältere. Wofür möchte ich meine Zeit und Energie einsetzen, wenn der Wecker

morgens nicht mehr klingelt? Wenn es in meinem Alltag keinen festen

Arbeitsplatz mehr gibt? Und dann habe ich die Bilder der letzten Wochen an der

polnischen Grenze im Kopf und die vielen Orte, wo Menschen auf der Flucht sind.

Die aufgebrochen sind aus Hunger und Krieg auf der Suche nach Nahrung und

Heimat und nun irgendwo im Niemandsland feststecken, weil Regelungen ihnen

keine Bleibe geben. „Wo ist mein Platz?“ Das ist für viele, viel zu viele eine

existentielle Frage.

„Seht

auf und erhebt eure Häupter, weil sich Eure Erlösung naht“, so lautet der biblische

Wochenspruch für den 2. Advent. „Seht auf und erhebt eure Häupter“ – Ich mag

diese alten Worte, wie Luther sie übersetzt. Worte, die sonst in meinem

Sprachgebrauch kaum vorkommen. In deren Klang für meine Ohren schon etwas

Besonderes, Gewichtiges liegt. „Seht auf und erhebt eure Häupter“, das ist mehr

als „Kopf hoch“. Das ist Aufschauen: neugierig, wach, erwartungsvoll. Weil da

etwas kommt. Licht und Hoffnung. Advent eben. Gott kommt zu uns, kommt zu mir.

Dahin, wo ich gerade bin. Mit dem, was ich trage, mit dem, was ich suche und

wonach ich mich sehne. Er kommt an meine Seite und gibt meiner Suche eine neue

Richtung. Damit ich meinen Platz finde.

Musik 1: A new door

Titel: A new door; Text und Musik: Lenny Kravitz, Album: It Is Time for

a Love Revolution; Label: Universal Music; LC: 97777.

Autorin: Manchmal öffnen sich Räume ganz

unerwartet. Jakob hat das erlebt. Jener Jakob, von dem das erste Buch Mose am

Anfang der Bibel erzählt. Er hatte es auf den Segen des Erstgeborenen abgesehen

und mit einer List den schon alten und erblindeten Vater getäuscht. Als der

glaubte, er habe den älteren Sohn vor sich, konnte Jakob den Segen des Vaters

empfangen. Sein Bruder Esau ging leer aus. Eine üble Betrugsaffäre, die ihm,

als sie auffliegt, zum Verhängnis wird. Zuhause hat er jetzt keinen Platz mehr.

Rote Karte. Platzverweis. Zwei Wochen ist Jakob nun auf der Flucht. Noch immer

klingen in ihm die Sätze der Mutter nach: „Jakob, dein Bruder Esau droht, dass

er dich umbringen will. Deshalb mach dich auf und flieh.“ So irrt er durch die

Nacht. Niemand fragt mehr nach ihm. Kein Obdach. Keine Bleibe. Jakob allein auf

dem Weg in ein neues Leben. Nur Steine sind um ihn herum. Er sucht einen Platz.

Sprecher: „Da kam Jakob an einen Ort und blieb dort über Nacht,

denn die Sonne war untergegangen, und er nahm einen von den Steinen dieses

Ortes und legte ihn unter seinen Kopf, und er schlief an jenem Ort und ihm

träumte.“ (1. Mose 28,11.12a)

Autorin: Ein nichtiger Ort wird für Jakob zum einem

Schlafplatz. Zu einem Ruheplatz. Die Bibel erzählt, dass er in dieser Nacht

träumt. Wovon träumt einer, der keine Bleibe hat? Der auf der Flucht ist vor

sich selbst. Ob ihm auch im Traum noch die Sorgen alle Luft zum Atmen nehmen?

Vielleicht geschieht aber auch etwas anderes. Vielleicht träumt er inmitten

seiner Nacht von einer anderen Welt, in der für ihn die Sonne wieder aufgeht. I

have a dream: Wieder einen Platz im Leben haben, jemanden, der ruft: „Mein

rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir den Jakob herbei“ – Auch davon

könnte Jakob träumen.

Sprecher: „Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf

Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes

stiegen daran auf und nieder.“ (1. Mose 28,12)

Musik 2: O Heiland, reiß die Himmel auf

O

Heiland, reiß die Himmel auf (with Sharon Dyall, Jonas Knutsson, Jeanette Köhn,

Eva Kruse, Jessica Pilnäs, Ida Sand & Johan Norberg); Interpret: Nils

Landgren; Album: Christmas with My Friends V; Label: 2016 ACT Music + Vision

GmbH & Ko KG; LC:

Autorin: Unfassbar, was Jakob da zu sehen bekommt, und wir

mit ihm. Dieser zufällige Schlafplatz eines Menschen, der momentan keinen Platz

im Leben hat, wird zu einem Ort der Begegnung! Gott baut vom Himmel herab eine

Leiter, wie eine Brücke auf Jakob zu. An dieser Leiter steigen Engel hinab und

hinauf. So ist Gott. Er öffnet den Himmel und sucht seinen Platz neben den

Menschen. Er zeigt Jakob: Wo Du auch bist, wo Du auch herumirrst, ich komme in

deine Verlassenheit und gehe mit dir, Seite an Seite, ein Leben lang.

„I have a dream“ – Jakob lässt diesen Traum an sich geschehen. Er spürt, erlöst

und befreit: Gott hat mir einen Platz angeboten. Ich werde wieder meinen Platz

im Leben finden. Wie genau der aussieht, das weiß er noch nicht. Wohin seine

Wege ihn führen werden, auch das weiß er noch nicht. Aber Jakob ist sicher,

„Hier ist kein Platz für dich“ ist nicht das letzte Wort. Er erlebt, dass sich

für ihn neue Räume öffnen. Ganz anders als geplant und erwartet.

Sprecher: „Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er:

Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte und ich wusste es nicht. Und er

fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes

als Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am

Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte und

richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl obendrauf und nannte den Ort

Bethel.“ (1. Mose 28,16.18.19a)

Autorin: An einem unwirtlichen Steinplatz ist Jakob Gott

begegnet. Diesem Platz gibt er einen Namen: Bethel – Haus Gottes. Hier hat Gott

Wohnung genommen mitten in der Welt. Hier haben sich Himmel und Erde berührt in

einem Menschen. Darum baut Jakob ein Steinmal. Zu seiner eigenen Erinnerung, zu

Gottes Erinnerung und: damit alle es sehen können.

„Seht

auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Manchmal öffnen

sich neue Räume ganz unerwartet. Wie ernst nehme denn ich meine Träume? Wie

offen bin ich für das Kommen Gottes in mein Leben? Wenn mir so etwas passiert,

ganz unerwartet, lasse ich es geschehen?

Musik 3: Let it be

Let it be; Komposition: John Lennon & Paul McCartney; Interpret: The

Beatles; Album: 1; Label: 2015 Calderstone Productions Limited (a division of

Universal Music Group); LC:

Autorin: „Let it be“ – „lass es geschehen“, nimm an, was gerade

geschieht, diese Einstellung ist oft hilfreich dafür, dass Neues entsteht, dass

es weitergeht. „Let it be“ –, das hat auch Maria befolgt, als ihr ein Engel

Gottes begegnet ist. Er hat sie als „Begnadete“ angesprochen und ihr die

Schwangerschaft und die Geburt Jesu angekündigt. So ist das mit Gottes Anrede

an uns Menschen. Er kommt in Boten, in Seinem Wort, manchmal auch dann, wenn

wir nicht mit ihm rechnen. Nichts bleibt beim Alten, alles kann neu werden. Wenn

Gott zu uns kommt, führt das auf Wege, die wir uns selbst vielleicht nicht

ausgesucht hätten. Maria kann antworten „mir geschehe, wie du gesagt hast“. Sie

findet sich in ihre neue Situation ein und macht sich auf zu ihrer hochbetagten

Verwandten Elisabeth. Vielleicht sucht sie jetzt einen Menschen, der versteht,

was sie bewegt. Elisabeth ist älter, sie hat Erfahrung, sie kann zuhören. Es

tut gut, einen Platz zu haben, um im Gespräch mit einer anderen fassen zu

können, was gerade mit mir geschieht. Um sich zurechtzufinden, um dazu stehen

zu können. Drei Monate später kehrt Maria nach Hause zurück. Bis sie sich wegen

der Volkszählung mit Josef auf den Weg nach Bethlehem machen muss. Dorthin, wo

es heißen wird „Kein Platz in der Herberge“. Bis sie dann in einem Stall

unterkommen, und sie das Kind dort zur Welt bringt und in eine Krippe legt. Wie

damals bei Jakob ein Steinplatz, wird hier ein Stallplatz zum Hause Gottes,

Bethel.

Maria

lernt, dass es bei Gott keine feste Rangordnung gibt. In ihrem Lobgesang, dem

Magnificat, singt sie von einem Platzwechsel, den Gott selbst veranlasst: Er

stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt

er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Bei Gott erfolgt die

Platzvergabe nach anderen Regeln, als wir sie aufstellen. Hier zählen die

Maßstäbe Seiner Liebe und Seiner Gerechtigkeit. So singt Maria ihren Jubel aus

sich heraus und will auch uns damit anstecken. Nichts muss beim Alten bleiben.

Alles kann neu werden.

In

der Begegnung mit Jesus erleben Menschen das hautnah. Mit wem er sich an einen

Tisch setzt und mit wem er das Brot bricht. Wie er Ausgeschlossenen und

Verachteten Aufmerksamkeit schenkt und ihnen gibt, was sie brauchen. In Jesu

Nähe gilt in Gottes Namen: Jeder findet einen Platz. Voraussetzungslos.

Bedingungslos. Ausrufungszeichen!

Musik 4: Let it be

Let it be; Interpret: Fred Benedetti &

Peter Pupping; Album: Beatles: Guitar Instrumentals; Label: 2007 Guitar Sounds;

LC: unbekannt.

Autorin: Für jeden einen Platz! In der Nachfolge Jesu wird

die Frage nach meinem Platz auch zu einer Frage nach dem Platz der anderen.

Ich

denke an einen Bekannten. Seit drei Jahren klingelt sein Wecker morgens nicht

mehr. Stattdessen macht er sich mehrmals in der Woche nachmittags auf den Weg

und unterstützt geflüchtete junge Männer beim Lernen der deutschen Sprache und

Kultur. Er hatte sich gefragt, was soll ich jetzt nach dem Eintritt ins

Rentenalter mit meiner Zeit anfangen? Was kann ich Sinnvolles tun? Was brauchen

Menschen hier vor Ort? Ein Freund hatte ihm dann von seinem eigenen

ehrenamtlichen Engagement in der Flüchtlingshilfe erzählt. Er traute es ihm

auch zu. „Du bist bestimmt ein guter und geduldiger Begleiter“. Trotz

anfänglicher Bedenken hat er es dann ausprobiert und festgestellt: Es geht und

es macht sogar Freude! Nun denkt er häufig darüber nach, wie er als ehemaliger

Ingenieur die deutsche Sprache lebensnah und interessant vermitteln kann. Wie

er den Männern, die doch ihr Leben noch vor sich haben, helfen kann, auf eigenen

Füßen zu stehen. Und dann macht er sich immer wieder mal mit einem von ihnen

auf die Suche nach einem Ausbildungsplatz, spricht vor und schaut mit auf die

Bewerbungsunterlagen. Er fiebert mit, wenn in der Berufsschule Lernkontrollen

bevorstehen. Zuletzt hat er für zwei seiner Schützlinge eine kleine bezahlbare

Wohnung gefunden. Abends beim Gang mit dem Hund malt er sich aus, wie das Leben

der jungen Erwachsenen wohl in 10 Jahren ausschauen mag. Welchen Platz sie dann

für sich gefunden haben. Wenn er von ihnen erzählt und dabei Namen mit

Geschichten verbindet, wenn er von Freude und Leid, von Sorgen und Hoffnung erzählt,

erzählt er mit ihnen inzwischen auch ein Stück seiner eigenen Geschichte. Dann

denke ich: da hat jemand seinen Platz gefunden.

Ich

frage mich selbst: An wessen Seite ist mein Platz? Wem räume ich Platz ein in

meinem Leben, an meinem Tisch, in meinen Gedanken und Gebeten? Mit wem teile

ich meine Zeit und Ideen, mein Brot und Wissen? Wo setze ich mit dafür ein,

dass wahr wird: Gott erhöht die Niedrigen! Für jeden einen Platz!

Musik 2: O Heiland, reiß die Himmel auf

Erinnern

Sie sich an Jakob? Er läuft davon, er findet einen Schlafplatz zwischen ein

paar Steinen. Er träumt von Gott, den Engeln und der Himmelsleiter. Jakob gibt

noch am Ort der Begegnung mit Gott ein Gelübde ab.

Sprecher: Er sprach: „Wird Gott mit mir sein und mich behüten

auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen geben und Kleider anzuziehen

und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein

Gott sein. Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll

ein Gotteshaus werden; und von alledem, was du mir gibst, will ich dir den

Zehnten geben.“

Autorin: Gott verspricht: „Ich will mit dir sein“, und Jakob

antwortet darauf. Mit seinem Gelübde macht Jakob deutlich: Ich gebe meinem

Leben eine neue Richtung. Seinem Traum, seiner Begegnung mit Gott folgen Taten.

Schließlich wird Jakob die Versöhnung mit Esau suchen. Er zieht seinem Bruder

entgegen. Die Geschwister finden gemeinsam eine Lösung, die ihnen und ihren

Großfamilien jeweils ausreichend Platz zum Leben bietet.

Die

Bibel ist voll von Geschichten, in denen Menschen wie wir, freiwillig oder

gezwungenermaßen, auf Platzsuche sind. Am Ende finden sie ihren Platz mit

Gottes Hilfe: Weil Gott Seinen Platz an der Seite von uns Menschen sucht.

Das

ist unsere Vorfreude im Advent: Gott kommt. „Seht auf und erhebt eure Häupter,

weil sich eure Erlösung naht.“ Das soll für viele Menschen wahr werden. Wir

dürfen schon einmal Ausschau halten und daran mitwirken. Auf einen rein

beschaulichen Advent, mit Weihnachtsmärkten, Kerzenschein und Plätzchenduft

lässt sich diese Verheißung nicht herunterschrauben. Sie zielt auf einen neuen

Himmel und eine neue Erde, in der Gott bei uns Menschen wohnt und jeder und

jede Platz und Heimat hat.

Dass

Sie Ihren Platz finden, wünscht Ihnen heute Pfarrerin Antje Menn aus Remscheid.

Musik 1: A new door

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/56887_GWAntjeMennInternetfassung.mp3

  • 5.12.2021
  • Antje Menn
  • © CCO Pixabay
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