Guten Morgen!
„Wir hatten ja nichts“ – wenn
ich den Spott meiner Kinder provozieren und ihre Augen rollen sehen will, dann
komme ich mit diesem Spruch. „Wir hatten ja nichts.“ Erzähle dann von meiner
Kindheit in den 60ern, von Kohleöfen und täglich Kartoffeln, von kalten Wintern
und dünnem Himbeersaft. Eindruck macht das weniger, denn natürlich wissen sie: von
echter Not kann keine Rede sein, dazu bin ich dann doch 20 Jahre zu jung. Wir
Babyboomer-Wirtschaftswunderkinder, wir hatten meistens alles, was wir
brauchten. Sogar zwei Fernsehprogramme.
„Ach wissen Sie, wir hatten
ja nichts.“ Begegnet immerhin sind mir in meinem Leben viele von denen, die 20,
30, 40 Jahre älter waren als ich. Geboren zwischen den Kriegen. Die die
wirklich schlechten Zeiten erlebt hatten, als Kinder, Jugendliche, Erwachsene. 800
bis 1.000 Kalorien gab’s im Winter 46/47 für den Durchschnittsdeutschen täglich.
Zwei Scheiben Brot, zwei Stücke Würfelzucker, eine Scheibe Käse, ein paar Gramm
Fett. Alles auf Bezugsschein. Für den musste man anstehen, und gleich danach wieder
anstehen für die kümmerliche Hungerkost. Wenn’s denn was gab. Und Millionen
hausten noch in Höhlen irgendwo zwischen den Trümmern. Wie man tauschte und
hamsterte, manches auch klaute – um des nackten Überlebens willen. Sogar mit
dem Segen eines Kölner Kardinals.
Diese zwischen den Kriegen
geborenen, die konnten das sagen: „Ach wissen Sie, wir hatten ja nichts.“ Viele
allerdings schoben überraschend hinterher: „Aber es war eine schöne Zeit.“ Und
erzählten dann, wie man zusammenrückte, sich gegenseitig unter die Arme griff. Und
kaum einer sich für was Besseres hielt. Nun färbt die frühe Erinnerung manches in
wärmeren Tönen. Aber nur schlecht waren auch die schlechten Zeiten nicht, so
viel habe ich gelernt.
Fragt sich: Wie sind die
Zeiten denn heute? Noch nie in meiner Lebenszeit haben wir hierzulande mit
solcher Sorge auf den kommenden Winter geschaut. Reicht das Gas? Hält das
Stromnetz? Bleibt die Wirtschaft stabil? Und schaffen wir’s, dass auch Geringverdienende
weder frieren noch hungern müssen?
Keiner weiß das ganz genau. Und
ernst zu nehmen ist die Lage allemal.
Allerdings: Wir haben nicht
nichts.
Gott sei Dank – wir haben allerhand.
Materiell ohnehin, muss man im Ernstfall besser verteilen. Aber Gott sei Dank –
wir haben noch mehr. Kluge Köpfe, mutige Managerinnen, ehrlich Engagierte. In
der Politik, in Parlamenten, Ministerien und Behörden, in Kommunen,
Rettungsdiensten, Zivilschutz und Polizei. Und auch in den Wohlfahrtsverbänden
und Kirchen, in der Zivilgesellschaft, im Quartier. Allenthalben wird dieser
Tage geplant und nachgedacht, was zu tun ist, wohin die Reise geht im Winter.
Der Kompass ist uralt: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne
Obdach sind, führe ins Haus!“ Gott sei Dank – wir haben viel zu teilen.
Ihr Ulf Schlüter, Bielefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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