Wondermenschen

Kirche in WDR3 | 23.09.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen,

„Wondermenschen“ steht auf

dem alten vergilbten niederländischen Zeitungsstück. In großen schwarzen

Buchstaben. Ein Blatt mit Werbeanzeigen für einen Jahrmarkt, auf dem es

offenbar solche Wondermenschen zu sehen gibt. Wondermenschen oder auf Deutsch

Wundermenschen wurden im Mittelalter bei Jahrmärkten zur Schau gestellt, weil

sie etwas Besonderes an sich hatten, exotisch aussahen. Damals waren sie vielleicht

kleinwüchsig oder Riesen, verkrümmt oder besonders stark behaart. Ihre Haut war

andersfarbig als die der heimischen Bevölkerung oder sie waren kaum oder anders

bekleidet. Mit ungläubigem Entsetzen hat man sie angestarrt, sich über sie

lustig gemacht oder sich vor ihnen gegruselt.

Der gelb-braune

Zeitungsfetzen ist Teil der Collage „Mare nostrum“ des Künstlers Christoph

Legde. Er malt die niederländische Nordseeküste mit den Pfahlreihen, den

Wellen, dem Strand. Seit Flüchtlinge verzweifelt und mit letzter Hoffnung übers

Meer nach Europa kommen, kann er die See aber nicht mehr nur romantisierend

darstellen. Die Pfahlreihen interpretiert er jetzt auch als Zaun vor

unerwünschten Eindringlingen. Als Mare nostrum, unser Meer, bezeichnet

er die See. Denn wir tragen Verantwortung für das, was darin passiert. Das

Bild von Christoph Legde ist wie ein Kreuz geformt und zeigt den Leidensweg von

Menschen auf der Flucht. Und die „Wondermenschen“ stehen für das, was man aus

den Mittelmeerflüchtlingen seiner Ansicht nach gemacht hat: Exoten, die man mit

ungläubigem Entsetzen anstarrt, die aber nicht zu uns gehören. Er hält uns

Europäern damit einen Spiegel vor und kritisiert, dass wir viel zu wenig tun,

um Menschen auf der Flucht vor dem Untergehen zu retten. Weil wir sie als

Fremde betrachten in einer Mischung aus Ängstlichkeit und dem Gefühl der

Bedrohung. Nicht als Menschen wie wir, die in Not sind und unsere Hilfe und

Solidarität brauchen. So wie wir sie uns umgekehrt auch von anderen wünschen

würden.

Gerade spüren wir ja: Je mehr

Geflüchtete sind wie wir, desto solidarischer sind wir. Je näher uns ihre Not ist,

desto hilfsbereiter. Vor lauter Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer drohen

Geflüchtete, die übers Mittelmeer kommen, zu Geflüchteten zweiter Klasse zu

werden. Das biblische Gebot „Helft einander die Lasten zu tragen. So erfüllt

ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat“ (Basisbibel, Galater 6,2) ist aber

nicht auf Menschen in unserer Nähe, in einem Land oder auf einem Kontinent

begrenzt. Lasten gemeinsam zu tragen und allen Menschen Gutes zu tun ist der

Auftrag. Bei der Flutkatastrophe an Ahr und Erft und anderen Gebieten, haben

wir Grüße und Gebete aus unseren Partnerländern in aller Welt bekommen. Und wir

haben gespürt, dass auch wir auf Unterstützung anderer angewiesen sind. Der

Zahn, wir wären vor Katastrophen gefeit, wurde uns gezogen, ganz biblisch:

„Wenn allerdings jemand meint, er sei etwas Besonderes, dann macht er sich

etwas vor. Denn das ist er keineswegs. Vielmehr sollte jeder das eigene Tun

überprüfen.“ (Basisbibel, Galater 6,4a) Wundern möchte ich mich jeden Tag

darüber, wie vielfältig wir Menschen sind. Stark und verletzlich zugleich.

Dass wir das in Zukunft immer

mehr beherzigen hofft und wünscht

Barbara Schwahn, Krefeld.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/59242_WDR3520220923Schwahn.mp3

  • 23.9.2022
  • Dr. Barbara Schwahn
  • © CCO Pixabay
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