Guten Morgen,
„Wondermenschen“ steht auf
dem alten vergilbten niederländischen Zeitungsstück. In großen schwarzen
Buchstaben. Ein Blatt mit Werbeanzeigen für einen Jahrmarkt, auf dem es
offenbar solche Wondermenschen zu sehen gibt. Wondermenschen oder auf Deutsch
Wundermenschen wurden im Mittelalter bei Jahrmärkten zur Schau gestellt, weil
sie etwas Besonderes an sich hatten, exotisch aussahen. Damals waren sie vielleicht
kleinwüchsig oder Riesen, verkrümmt oder besonders stark behaart. Ihre Haut war
andersfarbig als die der heimischen Bevölkerung oder sie waren kaum oder anders
bekleidet. Mit ungläubigem Entsetzen hat man sie angestarrt, sich über sie
lustig gemacht oder sich vor ihnen gegruselt.
Der gelb-braune
Zeitungsfetzen ist Teil der Collage „Mare nostrum“ des Künstlers Christoph
Legde. Er malt die niederländische Nordseeküste mit den Pfahlreihen, den
Wellen, dem Strand. Seit Flüchtlinge verzweifelt und mit letzter Hoffnung übers
Meer nach Europa kommen, kann er die See aber nicht mehr nur romantisierend
darstellen. Die Pfahlreihen interpretiert er jetzt auch als Zaun vor
unerwünschten Eindringlingen. Als Mare nostrum, unser Meer, bezeichnet
er die See. Denn wir tragen Verantwortung für das, was darin passiert. Das
Bild von Christoph Legde ist wie ein Kreuz geformt und zeigt den Leidensweg von
Menschen auf der Flucht. Und die „Wondermenschen“ stehen für das, was man aus
den Mittelmeerflüchtlingen seiner Ansicht nach gemacht hat: Exoten, die man mit
ungläubigem Entsetzen anstarrt, die aber nicht zu uns gehören. Er hält uns
Europäern damit einen Spiegel vor und kritisiert, dass wir viel zu wenig tun,
um Menschen auf der Flucht vor dem Untergehen zu retten. Weil wir sie als
Fremde betrachten in einer Mischung aus Ängstlichkeit und dem Gefühl der
Bedrohung. Nicht als Menschen wie wir, die in Not sind und unsere Hilfe und
Solidarität brauchen. So wie wir sie uns umgekehrt auch von anderen wünschen
würden.
Gerade spüren wir ja: Je mehr
Geflüchtete sind wie wir, desto solidarischer sind wir. Je näher uns ihre Not ist,
desto hilfsbereiter. Vor lauter Hilfe für die Ukrainerinnen und Ukrainer drohen
Geflüchtete, die übers Mittelmeer kommen, zu Geflüchteten zweiter Klasse zu
werden. Das biblische Gebot „Helft einander die Lasten zu tragen. So erfüllt
ihr das Gesetz, das Christus gegeben hat“ (Basisbibel, Galater 6,2) ist aber
nicht auf Menschen in unserer Nähe, in einem Land oder auf einem Kontinent
begrenzt. Lasten gemeinsam zu tragen und allen Menschen Gutes zu tun ist der
Auftrag. Bei der Flutkatastrophe an Ahr und Erft und anderen Gebieten, haben
wir Grüße und Gebete aus unseren Partnerländern in aller Welt bekommen. Und wir
haben gespürt, dass auch wir auf Unterstützung anderer angewiesen sind. Der
Zahn, wir wären vor Katastrophen gefeit, wurde uns gezogen, ganz biblisch:
„Wenn allerdings jemand meint, er sei etwas Besonderes, dann macht er sich
etwas vor. Denn das ist er keineswegs. Vielmehr sollte jeder das eigene Tun
überprüfen.“ (Basisbibel, Galater 6,4a) Wundern möchte ich mich jeden Tag
darüber, wie vielfältig wir Menschen sind. Stark und verletzlich zugleich.
Dass wir das in Zukunft immer
mehr beherzigen hofft und wünscht
Barbara Schwahn, Krefeld.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/59242_WDR3520220923Schwahn.mp3