Das Zittern meiner linken Hand

Kirche in WDR3 | 21.04.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Vielleicht kennen Sie das auch: Eins Ihrer

Körperteile tut nicht das, was es soll:

Das Ohr pfeift, das Knie schmerzt, der Magen krampft.

Jede und jeder hat seine, ihre eigene Achillesferse.

Bei mir ist es meine linke Hand. Sie zittert.

Das tut sie eigentlich schon immer. Essentieller

Tremor. Nicht weiter schlimm.

Manchmal kann das nur lästig sein, etwa beim Halten

von Suppenschälchen auf Empfängen.

Nun will ich mich gar nicht beschweren. Handicaps

gehören zum Menschsein dazu.

Was wäre unsere Menschheit ohne die vielen berühmten

Gehandicapten:

Mose hat wohl gestottert. Sokrates war ausnehmend

hässlich. Aristoteles Epileptiker. Thomas von Aquin adipös. Bei Mozart besteht

Verdacht auf Tourette-Syndrom.

Frida Kahlo litt an Kinderlähmung und Spina bifida.

Und Lady Gaga hat neben Bulimie eine Autoimmun-Krankheit.

Wie wäre die Geistes- und Kulturgeschichte

eigentlich verlaufen, wenn man damals schon eine umfassende Diagnose vor der

Geburt hätte durchführen können:

„Herr und Frau Einstein, ich muss Ihnen leider

mitteilen, Ihr Kind könnte möglicherweise behindert sein“?

Wir hätten lauter kerngesunde Schaufensterpuppen,

mit ruhigen Händen.

Ohne körperliches oder psychisches Leiden

wegzureden:

„Behinderung“ ist der Ausdruck für eine

Gesellschaft, die mit den besonderen Einschränkungen von Menschen nicht umgehen

kann.

In Kindheit und Alter gehören Handicaps ohnehin

flächendeckend dazu.

Menschen werden heute durchschnittlich 80, 85 Jahre

alt. Da ist es schon verwunderlich, dass wir vielleicht ein Drittel unseres

Lebens als „normal“ ansehen, die Jahre zwischen 15 und 40. Der Rest ist

„handicap-time“.

Entscheidend ist doch: Wie lerne ich, mit meinen

Einschränkungen umzugehen?

Nicht nur praktisch – Suppe vermeiden -, sondern

auch, wie ich mich verstehe.

In der Bibel spielt das eine große Rolle. Etwa in

den Berufungsgeschichten von Prophetinnen und Propheten. Sie laufen meist nach

einem ähnlichen Schema ab.

Gott beauftragt einen Menschen. Und der sagt: „Wieso

ich, Herr? Ich bin zu klein, dick, dumm oder hässlich und überhaupt

ungeschickt.“

Und Gott sagt: „Tu es trotzdem. Denn ich bin mit dir.“

Das finde ich hilfreich. Lass dich durch nichts und

niemand von deiner Bestimmung abhalten. Eine ältere Gottesdienstbesucherin, die

nur noch schwer hören und laufen konnte, hat das einmal so ausgedrückt:

„Ich lasse mir doch durch meine Krankheit nicht

vorschreiben, was ich tue oder

nicht.“

Was also auch immer

Ihr persönliches Handicap ist, liebe Hörerin, lieber Hörer: Folgen Sie Ihrer

Berufung!

Und vor allem: Lassen Sie uns gemeinsam daran

arbeiten, dass jede und jeder dazugehört.

Nicht Menschen sind behindert. Sondern Treppen,

Automaten, kleine Schriften – sie behindern, wenn sie die besondere Eigenart

von Menschen nicht im Blick haben.

Ich wünsche Ihnen einen gesegneten, barrierearmen

Tag.

Ihr Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche

im Rheinland.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57977_WDR3520220421Latzel.mp3

  • 21.4.2022
  • Thorsten Latzel
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