„Zur politischen und gesellschaftlichen Verantwortung der Kirche“

Die politische und gesellschaftliche Verantwortung ist ein wichtiges Thema, noch dazu an Pfingsten, am Geburtstag der Kirche. An dem Tag, an dem der Heilige Geist uns als Jüngerinnen und Jünger Jesu dazu treibt, raus zu gehen: die Kammer zu verlassen, in die Welt zu gehen, anderen begeistert von dem zu erzählen, was uns erfüllt. Oder anders formuliert: uns als Kirche auf die Socken zu machen. An Pfingsten wird der Glaube an den Auferstandenen öffentlich, politisch, ein gesellschaftliches Ereignis. Doch worin besteht die politische und gesellschaftliche Verantwortung der Kirche, zu der Gottes Geist uns treibt? Was bringen wir ein in die öffentliche Diskussion der großen Herausforderungen unserer Zeit? Oft wird diese Frage so beantwortet: Die Kirche vermittle sozial grundlegende Werte. Sie sei eine der zentralen moralischen Agenturen unserer Gesellschaft. Ihr Nutzen bestehe gleichsam darin, dass wir uns nicht gegenseitig den Kopf einschlagen, nicht töten, lügen, ehebrechen, stehlen, fluchen, saufen, prügeln, sondern friedlich, freundlich, wertschätzend miteinander umgehen, auf unseren Nächsten achten, uns besonders für Arme, Schwache, Hilfsbedürftige einsetzen. Nun. Das sind alles wichtige Werte. Und es ist gut, wenn wir uns als Kirche dafür stark machen und in den öffentlichen Debatten entsprechend Position beziehen. Dazu gleich auch noch mehr.

Ich glaube aber, dass die öffentliche Verantwortung der Kirche damit unterbestimmt bleibt. Kirche ist mehr und etwas anderes als eine Agentur für sozial erwünschte Werte. Vor allem beginnt das Pfingstwunder nicht damit, dass die Jünger-/innen etwas tun, sondern damit, dass ihnen etwas geschieht. Am Anfang stehen das Brausen vom Himmel, das Wehen des Geistes, der sich wie Feuerflammen auf einen jeden von ihnen setzt. Im Folgenden möchte ich daher versuchen eine anders akzentuierte Antwort auf die Frage zu geben. Eine Antwort, welche die Rede von Werten aufnimmt, sie aber übersteigt, weitet, anders einordnet. In der Kurzfassung lautet die Antwort: Gott. Die grundlegende politisch-gesellschaftliche Verantwortung der Kirche ist es, von Gott zu reden. Näher hin von dem drei-einen Gott, wie er sich uns in Jesus Christus zeigt. Von Gott als Schöpfer, der die Welt und uns erschaffen hat, täglich bewahrt, in seinen Händen hält. Von Jesus Christus, der mit und für uns leidet, uns versöhnt, uns in unserem Mitmenschen begegnet. Und vom Heiligen Geist, der in uns wirkt, uns Hoffnung schenkt, uns erlöst, vergnügt und frei leben lässt. Kirche ist zunächst einmal nicht „nützlich“ für etwas, sondern sie verantwortet Gott vor den Menschen. Oder mit Luther im Blick auf Pfingsten gesprochen: „Christum allein weiß der Heilige Geist zu predigen; der arme Heilige Geist weiß sonst nichts.“ Doch gerade in dieser „Nutzlosigkeit“, in ihrer Ausrichtung ganz auf Gott liegt die besondere politisch-gesellschaftliche Bedeutung der Kirche. Diese Aussage hat eine doppelte Stoßrichtung: Sie widerspricht zum einen dem Versuch, Kirche auf Moral zu reduzieren– ohne diese ganze hinderliche Sache mit Gott und Glaube. Und sie widersteht umgekehrt auch dem Versuch, Glaube und Religion zur Privatsache zu machen. Gerade wenn wir als Kirche von Gott reden, übernehmen wir Verantwortung für unsere Welt – weil wir etwas zu sagen haben, was Politik und Gesellschaft sich selbst nicht sagen können. Das möchte ich versuchen, in sieben Thesen kurz näher zu entfalten.

1. „Irren ist menschlich. Irren dürfen ist evangelisch.“ – evangelische Fehlerkultur

Das halte ich für einen zentralen Beitrag der Kirche zu unserer Gesellschaft wie zur Politik: Der Glaube an Gott hilft, mit eigenen und fremden Fehlern umgehen zu können. „Der Mensch irrt, so lange er lebt.“ Das ist eine klassische Binsenweisheit. Nicht neu, auch nicht Pulitzerpreis verdächtig. Doch es fällt schwer, mit dieser Einsicht umzugehen. In Bezug auf mich selbst wie im Blick auf andere. Es fällt schwer, meine eigenen Fehler einzugestehen, vor allem auf öffentlicher Bühne: „Ja. Da haben Sie recht. Das war ein Fehler. Ich bitte um Entschuldigung.“ Das hat mit Scham zu tun. Und verletzt mein Ego, mein sorgsam gepflegtes Image, meinen Narzissmus. Genauso schwer fällt es aber auch, mit den Fehlern anderer umzugehen. Auch wenn Irren menschlich ist, erwarten wir, dass andere es gefälligst nicht tun. Vor allem nicht von politischen Leitungspersonen. Was ziemlich paradox ist. Wir leben in Zeiten, in denen sich unser Lebenswelt rasant schnell verändert. Während die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern also steigt, sinkt die Toleranz, sie zu akzeptieren. Gerade in den sog. sozialen Medien gibt es eine Empörungskultur, eine Algorithmen unterstützte kollektive Erregung mit Shitstorms, sozialen Ächtungen, digitalem Pranger. Diffamierung als Breitensport. Doch Fehler machen zu dürfen, ist notwendig. Gerade, wenn man in verantwortlichen Position ist. Leiten heißt geradezu: den Mut haben, Fehler zu machen und mit ihnen umgehen zu können. Einer der Schlüsselsätze aus der Corona-Zeit war für mich die Aussage des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn: „Wir werden einander viel zu vergeben haben.“ Dazu hilft die Pfingstbotschaft von dem Gott, der uns von unserer eigenen Gnadenlosigkeit befreit. Luther schreibt an Melanchthon: „Sündige tapfer, aber glaube tapferer und freue dich in Christus, der Herr ist über Sünde, Tod und Teufel“. Das ist Inbegriff evangelischen Glaubens: Gott liebt uns als unvollkommene, fehlerhafte Menschen. Ohne Voraussetzung. Allein aus Gnade. Das macht uns frei, nicht perfekt sein zu müssen, zu eigenen Fehlern stehen zu können. Und mit den Fehlern anderer gnädig umzugehen. Weil auch sie geliebte, endliche Geschöpfe Gottes sind wie wir. Aus der Gnade Gottes zu leben, macht einen gnädig im Umgang mit anderen. Als Kirche sind wir keine Gemeinschaft der Reinen. Auch nicht von Menschen mit den richtigen moralischen Anschauungen. Dann könnte ich auch selbst gar nicht dazugehören. Sondern wir leben davon, dass Gott uns als Unannehmbare annimmt. Und so wie uns auch alle anderen. Das heißt nicht, Fehler zu relativieren. Aber es hilft, gnädig mit sich selbst und anderen zu sein.

2. „Dem anderen alles zum Besten kehren“ – kommunikativer Anstand

Wir haben in unserer Gesellschaft ein massives Problem mit Andersdenkenden, insbesondere bei politischen Fragen. Es gibt kommunikative Unverträglichkeiten der verschiedensten Art. Dazu ein kleiner Selbsttest. Hand aufs Herz: Mit welcher der folgenden Personen würden Sie es vermeiden, im Restaurant öffentlich an einem Tisch zu sitzen? Klima-Wandel-Leugner, Umweltaktivistin, Impfgegner oder Befürworterin, AfD-Wähler, strenge Muslima, Pazifist, Putin-Anhänger, Menschen mit Behinderung, Bürgergeld-Empfänger, Porsche-Fahrer, Fans von Florian Silbereisen, Richard Wagner oder Rammstein, Bayern München oder Union Berlin? Oder um es mit Methusalix zu sagen: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier.“ Für uns als Kirche ist es grundlegend, dass wir uns mit allen Menschen gemeinsam an den Tisch setzen. Christsein heißt geradezu, mit anderen essen können. Mit allen anderen, gerade auch mit uns Fremden. Weil Christus selbst so gelebt hat: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ So lautet sein Alleinstellungsmerkmal. Im Abendmahl gibt Christus sich selbst hin: an die, die ihn ausliefern, ihn verleugnen, im Stich lassen werden. Und er leitet uns an, dies auch zu tun.

Darin üben wir uns bei jeder Abendmahlfeier neu. Und das ist wie in der Kantine: Wenn ich mit anderen esse, verändert dies, wie ich mit anderen umgehe, über sie rede. Mit einander essen übt im kommunikativen Anstand. Martin Luthers hat das in der Auslegung des 8. Gebots im Kleinen Katechismus eindrücklich beschrieben: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“ Den anderen entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren: Das bringen wir in Gesellschaft und Politik ein. Kommunikativen Anstand im Umgang mit Andersdenkenden. Weil wir gemeinsam miteinander essen und Christus uns so im Abendmahl begegnet.

3. „Die Unterscheidung von vorletzten und letzten Dingen“ – die heilsame Ewigkeit Gottes

Was die Kirche in Gesellschaft und Politik beiträgt, ist eine heilsame Selbstrelativierung. Wir tun dies, indem wir von Gottes Ewigkeit sprechen: Wir sind nicht die ersten, nicht die letzten. Und nichts von dem, was wir planen, bauen, machen, veranstalten, heiß diskutieren, wird ewig bleiben. Alles hat seine Zeit. Und irgendwann wird es nicht mehr sein. So wie wir auch selbst einmal vergehen werden. Das wissen wir, theoretisch zumindest: dass wir endlich, sterblich sind. „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.“Und doch leben wir in aller Regel so, als ob es weder ein „vor uns“ noch „nach uns“ gäbe. Für Sokrates und all die anderen mag das mit der Sterblichkeit ja stimmen. Aber für mich? „Das Leben als letzte Gelegenheit“ – so beschreibt Marianne Gronemeyer das Zeitgefühl in der Postmoderne. Der eigene Tod wird verdrängt und ist doch präsent in der Angst, irgendwas im Leben zu versäumen. Was die Jünger-/innen an Pfingsten an Pfingsten weitersagen ist der Glaube an den Auferstandenen. Ein „Pharmakon athanasias“, ein Heilmittel zur Unsterblichkeit, wie es in der frühen Christenheit hieß. Es ist der Glaube, dass alles Leben vergänglich ist, dass aber Gott aus dem Tod neues Leben schafft. Beides gehört zur Botschaft des Glaubens: – Das memento mori. „Lehre uns bedenken, dass wir sterblich sind, auf dass wir klug werden.“ (Ps 90,12) – Und das Vertrauen auf den Gott, der Licht aus Finsternis schafft, Leben aus dem Tod und dem Nicht-Seienden ruft, dass es sei. Das ist unsere Hoffnung: Gott lässt dem Tod nicht das letzte Wort. Gott wird seine Schöpfung und uns einmal zu einem guten Ende führen. Und einmal werden wir im Licht der Liebe Gottes stehen mit all dem, was wir einander getan oder nicht getan haben. Dem Guten wie dem Schlechten. Was bedeutet nun diese Hoffnung auf Gottes Ewigkeit für unsere Gesellschaft wie unsere Politik? Sie hilft uns einmal, unsere Mitmenschen ernst, aber die Dinge nicht zu ernst zu nehmen. Nicht Dinge oder Besitztürmer sind wichtig, sondern Menschen, weil uns in ihnen Gott begegnet. Sie hilft uns sodann, das Zeitliche zu segnen: Wir sind hier für eine begrenzte und uns geschenkte Zeit als Gast auf Gottes schöner Erde. Diese Zeit sollten wir nutzen, um das Leben anderer schöner zu machen, einander zu helfen, einander zu lieben. Das ist es, was von unseren Tagen bleiben wird und Bestand haben wird in Gottes Ewigkeit. Und die Hoffnung auf Gottes Ewigkeit hilft auch, dem Unrecht in dieser Welt zu widerstehen, im Großen wie im Kleinen.Nein, die Gewaltherrscher dieser Welt werden mit ihren Untaten nicht durchkommen. Auch dann nicht, wenn weltliche Gerichte sie nicht belangen. Einmal werden sie wie wir alle mit unseren Taten im Licht der Liebe Gottes stehen – vor dem Angesicht Christi, der aus Liebe selbst zu einem Opfer der Gewalt geworden ist. Die Perspektive der Ewigkeit ist heilsam für unser Zusammenleben hier und jetzt. Und sie rückt manche Fragen und Themen in das rechte Verhältnis.

4. „Kirche macht nicht Politik, sondern ermöglicht sie.“ – Zum Verhältnis von Staat und Kirche

Das Verhältnis von Staat und Kirche wird ja mitunter kontrovers diskutiert. Manche fordern eine viel striktere Trennung, bis hin zur laizistischen Vorstellung von der Öffentlichkeit als religionsfreie Zone. Mir sind zwei Punkte hier wichtig zu betonen. Zum einen: Es ist gut und wichtig, dass wir eine Trennung von Staat und Kirche haben. Platon irrte mit seiner Vorstellung, dass Philosoph-/innen per se die besseren Politiker-/innen seien. Das gilt ebenso für Priester oder Pfarrer-/innen. Das hat die Geschichte schmerzhaft gelehrt. Nein, ein religiöser Staat auf Erden ist keine gute Idee, gleich welcher religiösen Herkunft. Hier braucht es eine freiwillige Selbstzurücknahme von Kirche, gerade auch aus theologischen Gründen. Weil Religionen immer missbrauchbar sind, missbraucht werden und menschliche Macht überhöhen. Zum anderen: Es ist zugleich gut und wichtig, dass wir eine fördernde Neutralität haben. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So das berühmte Diktum von Böckenförde. Es braucht innere, politisch unverfügbare Kräfte, um die formal gewährte Freiheit positiv zu gestalten. Religion ist ein elementarer Teil des Menschseins. Deswegen ist es richtig, dass unser Grundgesetz die freie Religionsausübung und das individuelle Recht jedes einzelnen auf religiöse Bildung schützt. Das gilt selbstverständlich nicht nur für den christlichen Glauben, sondern ebenso für Judentum oder Islam. Wir brauchen islamischen Unterricht an staatlichen Schulen, Universitäten. Die Frage dabei ist nur, welche Institution dies angemessen gewährleisten kann. Es tut weder der Gesellschaft noch einer Religion gut, wenn beide separiert werden. Das Modell fördernder Neutralität ist eine echte Erfolgsgeschichte und führt dazu, dass wir manche religiösen, gesellschaftlichen Probleme nicht in der Weise haben wie etwa im laizistischen Frankreich. Was wir brauchen, ist gebildete Religion, die sich von ihrem eigenen theologischen Selbstverständnis her als Teil der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft versteht. Als Kirchen machen wir deshalb nicht Politik, sondern fördern, ermöglichen sie und begleiten sie kritisch.

5. Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – heilsame, handlungsleitende Visionen

Was wir als Kirche vor allem in Gesellschaft und Politik eintragen, sind heilsame, handlungsleitende Visionen. Sie sind dringend nötig in einer Zeit, in der wir dauerhaft mit einem Gefühl des 5 nach 12 leben, in der viele junge Menschen sich selbst als „last generation“ verstehen. Nun stehen Visionen politisch spätestens seit Helmut Schmidt unter Pathologie-Verdacht. Und ja, Politik ist, mit Max Weber gesprochen die Kunst des geduldigen Bohrens dicker Bretter. Aber um das leisten zu können, allen kritischen Nachrichten zum Trotz, braucht es etwas, was das eigene Herz fest macht, was das Handeln leitet, was Mut und Hoffnung gibt – über den Horizont des eigenen Handelns hinaus.

Die Bibel ist voll von solchen heilsamen Visionen: – vom Schöpfungsbund, den Gott mit den Menschen nach der Sintflut schließt: „Solange die Erde besteht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ – vom Tierfrieden bei Jesaja: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ – vom Frieden zwischen uns Menschen: Dass einmal „Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“, „Schwerter zu Pflugscharen“ geschmiedet werden und unsere Kinder „einmal nicht mehr lernen werden, Krieg zu führen“. Solche Visionen – um das deutlich zu sagen – sind Verheißungen Gottes. Wir können sie selbst nicht machen, sie stehen nicht einfach in unserer Hand.Vielmehr brauchen wir in unserer unerlösten Welt weiter Recht setzende Macht, um schlimmere Gewalt einzudämmen. Das erleben wir exemplarisch zurzeit in der  Ukraine, wo es die brutale Aggression des russischen Staates zu begrenzen gilt. Aber auch wenn solche heilsame Visionen in diesem Leben nie ganz erreichen, was sie verheißen, brauchen wir sie, damit sie unser Handeln leiten und orientieren. Ganz im Sinne einer regulativen Idee bei Kant. Und damit sie uns den Blick für Gottes Wirken öffnen. Gerade jetzt brauchen wir die Vision von einem „gerechten Frieden“, die unsere Politik und unser Handeln dauerhaft neu ausrichtet – nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. „Si vis pacem, …“ – Wenn du den Frieden willst, dann übe Gerechtigkeit und bewahre die Schöpfung. Visionen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das brauchen wir. Das Ziel des Lebens sollte nicht nur sein, die Wohnung abgezahlt zu haben und sie aufgeräumt den Erben zu hinterlassen. Oder pointiert formuliert: Der reichste und angesehenste Bewohner des Friedhofs zu sein, ist ein unterkomplexes Lebensziel. Es gibt was Besseres für Dich und für diese Welt.

6. Hoffnung als trotzige Zuversicht

Das ist vielleicht das wichtigste, was wir in Zeiten der Poly-Krise brauchen: Hoffnung. Eine Zuversicht, dass es trotz der alltäglichen schlechten Nachrichten gut wird. Eine tiefe, innere Trotzkraft der Seele, das „Dennoch“ in Momenten letzter Einsamkeit, wenn ich an allem zu zweifeln beginne. Mein archimedischer Punkt mitten im Schlammassel von Krieg, Klimakrise, Corona, Inflation. Einer der schönsten Sätze, die Martin Luther niemals gesagt hat, seine reformatorische Hoffnungsbotschaft aber treffend zusammenfassen, ist der mit dem Apfelbäumchen. „Und wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Angesichts der aktuellen Stimmung in unserer Gesellschaft brauchen wir ganze Apfelbaum-Plantagen. Pflanzungen mit alten Sorten, um darin Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung im christlichen Sinn ist dabei etwas dezidiert anderes als Optimismus. Der Optimismus sagt: „Es wird schon wieder. Du musst nur positiv denken.“ Es helfe einfach, sich auf das Gute zu konzentrieren. Auf die Hälfte des Glases, in der noch Wasser ist. Das Problem ist nur, wenn sich die andere Hälfte nicht mehr ausblenden lässt. Dann wird der Optimismus leicht naiv.

Christliche Hoffnung dagegen meint etwas Anderes. Sie sagt: „Es wird gut werden. Weil Gott seine Welt zu einem guten Ziel führen wird. Und im Glauben bist du selbst Teil davon.“ Die Hoffnung ist viel radikaler als der Optimismus. Sie kümmert sich gar nicht darum, ob überhaupt Wasser im Glas ist. Die Welt kann, darf und wird nicht so bleiben, wie sie ist. Weil Gott dem entgegensteht. Und das verändert die, die daran glauben. Es schafft einen neuen Blick auf die Wirklichkeit. Gerade während der Flutkatastrophe vor zwei Jahren, von der auch Leverkusen betroffen war, konnte ich persönlich neu lernen, was Hoffnung bedeutet. Etwa als ich Menschen in Opladen, im Ahrtal und an vielen anderen Ort danach besucht habe. Hier meine kurze Quintessenz: – Hoffnung ist das, was uns Menschen selbst in den schwierigsten Situationen die Kraft verleiht, nicht aufzugeben. Etwas, was ich meinen Ängsten, Sorgen, Zweifeln entgegenhalten kann. Oder wie es Viktor Frankl formuliert hat: „Ich muss mir von meinen Ängsten ja nicht alles bieten lassen.“ – Hoffnung ist etwas, was ich nie alleine habe. Sie lebt davon, dass wir sie mit anderen teilen. Sie führt – obwohl hoch persönlich – in die Hoffnungs-Gemeinschaft mit anderen. – Hoffnung macht Menschen aktiv. Sie macht uns stark zu handeln. – Und sie hilft uns auch, wieder loszulassen und die Zukunft in Gottes Hände zu legen. – Hoffnung ist widerständig, „paradox“ im wahrsten Sinne des Wortes: Es gehört geradezu zu ihrem Wesen, dass sie dem Augenschein widerspricht. – Und schließlich: Hoffnung braucht einen starken „letzten Grund“ außerhalb ihrer selbst. Sonst wird sie naiv und verkommt eben zum bloßen positiven Denken. Das ist es, was wir von Pfingsten in die Gesellschaft beitragen können: einen Geist der Hoffnung. Oder wie es ein älterer Kollege einmal formuliert hat. „Christen sind Menschen, die das beste immer noch vor sich haben.“

Und schließlich 7. „Es ist uns nicht egal, wie es anderen geht.“ – aktiver Gemeinsinn

„Suchet der Stadt Bestes!“ Das ist ein Schlüsselsatz für eine christliche Haltung zur Gesellschaft. Glaube ist nie Privatsache, keine religiöse Bauchnabel-Schau, als ginge es nur ums eigene Seelenheil. Zum Glauben gehört immer die Sorge um die anderen, die Stadt, letztlich um Gottes ganze Schöpfung. „Suchet der Stadt Bestes!“ Der Satz stammt interessanterweise aus der Zeit des babylonischen Exils. Der Prophet Jeremia fordert die verschleppten Israeliten in einem Brief auf, sich um Babylon zu kümmern, um die Hauptstadt ihrer Feinde und Unterdrücker. Ja, und sie sollen sogar für Babylon beten.Wie viel mehr gilt das für uns, die wir in einer Demokratie leben dürfen. In einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, in dem alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (GG Art. 20,2) und in dem wir als Bürgerinnen und Bürger frei wählen und mitentscheiden können. Zugleich ist Kritik an Politiker/innen, an „denen da oben“, weit verbreitet, gehört fast zum guten Ton. Bei nur 17 % der Menschen in Deutschland genießt der Beruf des Politikers, der Politikerin ein hohes Ansehen. Schlechter schneiden nur Mitarbeitende von Telefongesellschaften, Werbeagenturen und Versicherungsvertreter-/innen ab. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei Gesprächen bei der Arbeit, im Privaten, am Stammtisch. Ich frage bei solchen Gesprächen gelegentlich zurück, wie viele der Kritiker-/innen selbst Mitglied einer Partei sind oder politisch engagiert. Vielleicht liegt das Problem mitunter weniger bei den Politiker-/innen als beim Gemeinsinn von uns als Bürgerinnen und Bürgern. Aktiver Gemeinsinn, die Bereitschaft, sich selbst, seine Zeit für andere einzubringen. Das ist etwas, was viele junge Menschen in der Kirche lernen und was bei kirchlich hoch Verbundenen stark verbreitet ist. Ein sozial sehr engagierter Freund von mir, Mitglied im Presbyterium wie in der Partei, hat es einmal so beschrieben: „Es ist uns nicht egal, wie es anderen geht.“ Das trifft für mich sehr schön. Gottesliebe und Nächstenliebe gehören für uns untrennbar zusammen. Jesu Bergpredigt beginnt damit, die selig zu preisen, die Frieden stiften, barmherzig sind, nach Gerechtigkeit hungern, den Mut haben, sanft zu sein.

Wir sind berufen als Salz der Erde und Licht der Welt zu leben. Drunter ist christlicher Glaube nicht zu haben. Und deswegen kann uns als Christinnen und Christen das Leid anderer nicht egal sein. An Pfingsten bekommen wir, was wir gegenwärtig am meisten brauchen: Begeisterung, feurigen Lebensmut und Verständnis für einander. Das alles wirkt Gottes Geist in uns, damals wie heute.Gottes Geist kommt, ohne dass wir wissen, wie oder woher, „wie ein Brausen vom Himmel“. Für uns unverfügbar.Und er weckt Feuer in uns, wenn wir Christus nachfolgen, schenkt uns die Gabe, andere zu verstehen, „in anderen Sprachen zu sprechen“.Damals wie heute treibt Gottes Geist uns raus: aus der eigenen Komfortzone rein in die Öffentlichkeit und vor allem hin zu anderen, die sich wie wir nach Hoffnung sehnen, nach etwas, das ihrem Leben Sinn und Orientierung gibt.Das hat damals vor 2000 Jahren wie heute ganz konkrete Folgen.

Damals lebten die Jüngerinnen und Jünger Gemeinschaft mit anderen, brachen Brot, beteten, teilten, was andere brauchten. Heute hilft uns Gottes Geist dazu, Familienarmut, Pflegenotstand, der Not von Geflüchteten öffentlich entgegenzutreten – und miteinander zu teilen, was andere brauchen. Gottes Geist hilft uns, die Sprache anderer zu sprechen: „die Parther, Meder, Elamiter“ stammen heute aus Kabul, Idlib oder Odessa. Und manchmal liegen die Sprachbarrieren schon am Gartenzaun zum Nachbarn, der so ganz anders über Klima, Impfen oder Genderstern denkt als wir selbst. Auch hier hilft uns Gottes Geist, Mauern zu überwinden.Pfingsten feiern wir eine Hoffnung, die andere ansteckt.Gottes Geist ist „nicht ein Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Tim 1,7)Dieser Geist Gottes ist es, den wir politisch und gesellschaftlich beizutragen haben.


Theologische Impulse (129) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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  • 27.5.2023