Autor: Kennen Sie Judas? Den aus der Bibel? Bestimmt, denn
Judas ist der Inbegriff des Verräters. Da wechselt ein Fußball-Idol zu einem
gegnerischen Verein, und wütende Fans schreien ihm „Judas“ hinterher. Oder ein
Parlaments-Abgeordneter stimmt gegen seine eigene Fraktion und wird dafür
empört als Judas beschimpft. Wenn dann noch herauskommt, dass er dafür einen
„Judaslohn“ in Form von Geld oder Pöstchen erhalten hat, sind ihm Hass und
Verachtung endgültig sicher.
Ich selbst bin in diesem
Sinne vielleicht noch nie zum Judas geworden. Aber bestimmt habe ich schon mal
jemanden verletzt oder enttäuscht. Ich tue nicht immer das Richtige. Auch ich
treffe manchmal fragwürdige Entscheidungen. Unter Druck, aus Ärger oder weil
ich mich irre. Dann bin ich darauf angewiesen, dass andere mir verzeihen. Wie
gehe ich damit um?
Der Judas aus der Bibel mit
dem Beinamen Ischariot war einer der zwölf Jünger Jesu. Zum Passahfest geht
Jesus mit ihnen und vielen weiteren Anhängern nach Jerusalem. Bei seiner
Ankunft bereitet ihm eine große Menschenmenge einen begeisterten Empfang. Kurz
darauf legt er sich mit den Händlern und Geldwechslern an, die vor dem Tempel
ihre Geschäfte machen. Wenige hundert Meter entfernt tagt unter dem Vorsitz des
Hohenpriesters Kaiphas der Hohe Rat, das höchste jüdische Gremium unter der
römischen Oberherrschaft. Kaiphas will Jesus verhaften und hinrichten lassen.
Aber vor den Augen der Menschenmenge wagt er es nicht, weil er dann einen
Aufstand befürchtet.
Da kommt ihm der Verräter
Judas wie gerufen: Er zeigt den Tempelwachen, wo sie Jesus bei Nacht und Nebel
abseits der Menschenmassen finden können. Sie verhaften ihn. Der Hohe Rat macht
ihm den Prozess, verurteilt ihn zum Tode und drängt den römischen Statthalter
Pilatus, das Urteil durch Kreuzigung zu vollstrecken. So jedenfalls berichten
es die Evangelien im Neuen Testament.
Musik: Silent World (feat. Mitchel Forman)
Komponist: Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World,
Track 2; Label: ACT Music+Vision; LC 07644
Autor: Eine besonders verhängnisvolle Bedeutung hat der
Judas-Vorwurf jahrhundertelang für den Hass und die Hetze gegen Juden gehabt:
Da hat man den Verräter Judas zum Juden schlechthin erklärt und damit das ganze
Judentum als bösartig, heimtückisch und niederträchtig diffamiert. Das hat
schlimme, sogar mörderische Folgen gehabt. Umso mehr lohnt es sich, genauer
hinzusehen.
Warum hat Judas Jesus
verraten? Das Markus-Evangelium, das älteste der vier Evangelien im Neuen
Testament, nennt kein Motiv. Es berichtet nur kurz und knapp:
Sprecher: „Judas Ischariot ging zu den Priestern, um Jesus
zu verraten. Als sie das hörten, freuten sie sich und versprachen, ihm Geld zu
geben.“
(Markus 14,10-11a)
Autor: Das Geld ist nicht der Grund für seine Tat: den Entschluss,
Jesus zu verraten, hat er ja schon vorher gefasst. Er fordert auch kein Geld – der
Hohe Rat sagt es ihm von sich aus zu. Erst Matthäus, der sein Evangelium zehn
bis zwanzig Jahre später geschrieben hat, macht das Geld zum Tatmotiv und nennt
auch eine Summe:
Sprecher: „Judas Ischariot ging zu den Priestern und fragte
sie: Was wollt Ihr mir geben? Ich will ihn Euch verraten. Da boten sie ihm
dreißig Silbermünzen.“
(Matthäus 26,14-15)
Autor: Im Lukas- und im Johannes-Evangelium heißt es, der
Satan sei in Judas gefahren. Im Johannes-Evangelium ist er der Kassenwart der
Jesus-Bewegung und hat dieses Amt die ganze Zeit über dazu missbraucht, sich
persönlich zu bereichern. Judas, das Schwein, der Abschaum, der skrupellose
Satan: für die meisten frühen Christen war klar: hinter so einer abscheulichen
Tat können nur die niederträchtigsten Beweggründe stecken.
Im Matthäus-Evangelium steht
dann allerdings auch, dass Judas seinen Verrat sehr schnell bitter bereut hat:
Sprecher: „Als Judas sah, dass Jesus zum Tode verurteilt
wurde, reute es ihn; er brachte den Priestern und Ältesten die dreißig
Silbermünzen zurück und sagte: ‚Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges
Blut vergossen habe.‘ Sie aber sagten: ‚Was geht uns das an? Das ist Deine
Angelegenheit!‘ Da warf er die dreißig Silbermünzen in den Tempel, lief fort
und erhängte sich.“
(Matthäus 27,3-5)
Autor: Woher diese plötzliche Reue? Dazu mit so drastischen
Konsequenzen? Das Todesurteil hat er doch selbst gewollt oder billigend in Kauf
genommen. Eiskalt und skrupellos, für schnödes Geld. Oder vielleicht doch
nicht? „Als er sah, dass Jesus zum Tode verurteilt wurde, reute es ihn:“ das
klingt irgendwie anders. So, als hätte er den Tod Jesu gar nicht gewollt. In
der Tat: eine so abgrundtiefe Reue und Verzweiflung bis dahin, dass er sich das
Leben nimmt, wird ja auch nur verständlich, wenn alles ganz anders gekommen
ist, als Judas es gewollt hatte.
Musik: La Casa
Komponist:
Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World, Track 3;
Label: ACT Music+Vision; LC 07644
Autor: Was aber, wenn nicht den Tod Jesu, hätte Judas mit
seinem Verrat bezwecken wollen? Man hat vermutet, er sei ein Zelot gewesen. Die
Zeloten waren eine jüdische Partisanenbewegung, die mit Anschlägen und
Überfällen einen Untergrundkrieg gegen die römische Besatzungsmacht geführt
hat. Solche Erwartungen sind auch an Jesus herangetragen worden. Den Messias,
den von den Propheten verheißenen Erlöser, haben sich viele als einen
siegreichen Befreiungskrieger vorgestellt. Jesus aber hat Gewalt abgelehnt und
auch nie Hass gegen Rom gepredigt. Judas, so lautet die Vermutung, will sich
damit nicht abfinden. Er will ihn mit seinem Verrat in die Enge treiben und ihn
zwingen, zum Aufstand aufzurufen. Als aber nichts dergleichen geschieht,
sondern Jesus zum Tode verurteilt wird, muss Judas erkennen, dass er sich
verkalkuliert hat und grausam gescheitert ist.
Judas hat, wenn es so war,
nicht verstanden – oder auch nicht verstehen wollen – dass das, was Jesus
verkündet und verkörpert hat, niemals erzwungen werden kann. Nun bin ich
Realist genug, zu wissen, dass es in dieser Welt nicht immer ohne Druck und
Zwangsmittel geht. So kann kein Staat auf Polizei und Strafgesetzgebung
verzichten. Auch in meinem eigenen Leben lässt sich nicht immer alles mit
Einsicht und gutem Willen regeln. Ich kann nicht immer alles hinnehmen. Mancher
Kompromiss wäre einfach nur faul. Es gibt Situationen, in denen ich klare Kante
zeigen, mich wehren oder auch andere im Kampf um ihr Recht unterstützen muss.
Aber soweit es möglich ist,
versuche ich, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nicht zu Machtkämpfen
geraten zu lassen. Denn die fordern, selbst wenn ich mich durchsetze, ihren
Preis. Manchmal einen sehr hohen. Vielleicht stehe ich am Ende als Sieger vor
einem Scherbenhaufen und frage mich: „War es das wert?“
Nichts erzwingen kann ich vor
allem da, wo es um menschliche Beziehungen geht. Die Liebe eines Menschen kann
ich nicht erzwingen. Wenn ich ihn mit Druck an mich zu binden versuche, treibe
ich ihn erst recht von mir fort. Auch Überzeugungen kann ich nicht erzwingen,
höchstens äußerliche Anpassung. Ich kann auch niemanden unter Druck zur
Einsicht bringen.
Jesus hat das Vertrauen der
Menschen gesucht. Wo sie sich ihm verschlossen haben, konnte er nichts
ausrichten, wie die Evangelien ausdrücklich vermerken. Zugang zu einem Menschen
finden und ihn für mich gewinnen kann auch ich nur, wenn ich ihn nicht
beherrschen und zu nichts zwingen will. Nur wenn ich ihn bejahe, wie er ist,
und nicht, wie ich ihn gern hätte, kann ich bei ihm etwas bewirken. Das heißt
aber auch: meinerseits offen dafür zu sein, mir dabei etwas sagen und meine
Sichtweise verändern zu lassen.
Musik: Rise and Fall
Komponist:
Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World, Track 8;
Label: ACT Music+Vision; LC 07644
Autor: Vielleicht war Judas aber gar kein
religiös-politischer Fanatiker, sondern voller Angst, dass alles ein böses Ende
nehmen könnte. Jesus hat in kurzer Zeit eine Massenbewegung entfacht. Er hat
zwar nie zum Kampf gegen Rom aufgerufen. Aber die Römer haben auf jede
öffentliche Unruhe rigoros und mit brutaler Gewalt reagiert. Das Passahfest ist
nun ein besonders brisantes Datum, denn es erinnert an die Befreiung der
Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Da waren die jüdischen
Freiheitshoffnungen immer schon besonders lebendig. Die Römer haben ihre
Militärpräsenz in Jerusalem verstärkt. Der Hohe Rat befürchtet, das Aufsehen,
das Jesus erregt, könnte sie zu einem gewaltsamen Eingreifen provozieren. So
steht es im Johannes-Evangelium:
Sprecher: „Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut
viele Wunder. Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, und
dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute.“
(Johannes 11,47b-48)
Autor: Hatte auch Judas Angst vor den Römern? War es das,
was er mit dem Hohen Rat verhandelt hat? Um ein Blutvergießen zu verhindern?
Vielleicht sogar mit dem Hintergedanken, dass Jesus in jüdischer Haft dem
römischen Zugriff entzogen wäre? Das setzt allerdings voraus, dass auch der
Hohe Rat Jesus nicht hinrichten, sondern nur wegsperren will, um seine
öffentlichen Auftritte in diesen Tagen zu unterbinden. Und damit zugleich den
Römern zu signalisieren, dass er die Lage im Griff hat. In der Tat weisen
jüdische Gesprächspartner und Kenner des jüdischen Gesetzes darauf hin, dass
nichts von dem, was Jesus gesagt oder getan hat, nach jüdischem Recht ein
todeswürdiges Verbrechen war.
Der römische Statthalter
Pilatus aber war, wie jüdische und römische Quellen jener Zeit berichten, ein
brutaler Tyrann. Er hat Tausende kreuzigen lassen und mehrere Massaker an der
jüdischen Bevölkerung befohlen. Niemals hätte er sich durch Angehörige eines
unterworfenen Volkes drängen lassen, jemanden kreuzigen zu lassen, an dessen
Hinrichtung er nicht selbst massiv interessiert gewesen wäre! Der Hohe Rat kann
ihn nicht gezwungen haben, Jesus kreuzigen zu lassen! Pilatus wird seinerseits
die Auslieferung dieses brisanten Gefangenen gefordert haben. Als Jesus
ausgeliefert wird, weiß Judas: das ist das Todesurteil.
Bis heute geschieht in dieser
Welt so manches Unheil nicht aus böser Absicht. Da ist einer überzeugt, das
Richtige zu tun, aber dann kommt alles ganz anders. Er macht sich bittere
Vorwürfe: „Hätte ich das doch nur nicht getan! Hätte ich doch anders
entschieden!“ Was dann passiert wäre, weiß allerdings auch niemand. Wäre es
ohne den Verrat des Judas zu einem römischen Massaker gekommen? Der Hohe Rat
schätzt die Gefahr sehr hoch ein und wägt notgedrungen ab. Der Evangelist
Johannes zitiert den Hohenpriester Kaiphas:
Sprecher: „Bedenkt: es ist besser, dass ein Mensch für das
Volk stirbt, als dass das ganze Volk seinetwegen umkäme.“
(Johannes 11,50)
Autor: Das hat er wahrscheinlich auch Judas auf seine
bitteren Vorwürfe geantwortet. Aber Judas ist zu eng mit Jesus verbunden, als
dass er sich damit beruhigen könnte. Er spürt nur eins: er hat Jesus verraten.
Er hat ihn auf dem Gewissen. Das kann er sich nicht verzeihen, und er zerbricht
daran.
Musik: Blue Bar (Feat. Nils
Landgren + Lars Danielsson)
Komponist:
Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Shapes, Track 6; Label:
ACT Music+Vision; LC 07644
Autor: Kann jemand, der so schwere Schuld auf sich geladen
hat, bei Gott Gnade finden? Ostern, die Auferweckung Jesu und ein Leben bei
Gott: gilt das auch für Judas? Für die christlichen Kirchen war seit je her
klar: Judas ist in alle Ewigkeit verdammt. Aber ich glaube, dass Gott mehr
vergibt, als wir Menschen es für möglich halten. Und wozu wir selber bereit und
in der Lage wären.
Verzeihen ist nicht immer
leicht. Aber es befreit nicht nur den, der mir Unrecht getan hat, sondern auch
mich selbst. An dem, was ich einem anderen Menschen nachtrage, habe ich eben
auch selbst zu tragen. Wenn ich es verzeihen kann, fällt diese Last von mir ab,
und ich kann innerlich damit abschließen. Aber was ist, wenn ich das nicht
kann? Bin ich dann kleinlich oder rachsüchtig oder selbstgerecht? Oder halte
ich anderen nur vor, was sie verbrochen haben, um von eigenen Verfehlungen
abzulenken? Vielleicht. Es ist gut, wenn ich da vor mir selbst ehrlich bin.
Aber es gibt auch Taten und
Gemeinheiten, die so skrupellos, und Schäden und Verletzungen, die so schwer
sind, dass die Betroffenen sie nicht verzeihen können. Dann wäre es auch eine
Zumutung, das von ihnen zu verlangen. Zumindest kann ich von jemandem, der mir
Unrecht getan hat, erwarten, dass er es einsieht. Solange ihm nichts leidtut
und er völlig in Ordnung findet, was er getan hat, kann ich ihm nicht
verzeihen. Und muß es auch nicht.
Noch schwerer aber als
anderen zu vergeben kann es sein, mir selber etwas zu verzeihen. Natürlich
werde ich versuchen, in Ordnung zu bringen, was ich verschuldet habe. Aber ich
werde nicht jeden Schaden beheben, nicht jede falsche Entscheidung rückgängig
machen, nicht alles Versäumte nachholen und nicht mit jedem, den ich verletzt
oder enttäuscht habe, wieder völlig ins Reine kommen können – jedenfalls nicht
so, dass wir einander wieder so unbefangen begegnen könnten wie vorher.
Ich finde es tröstlich, dass
ich mich über all das nicht nur mit Menschen meines Vertrauens aussprechen,
sondern es auch vor Gott bringen kann. Gott, bei dem selbst einer wie Judas auf
Gnade hoffen kann, wird auch über mich gerechter, freundlicher und
nachsichtiger urteilen, als andere es tun – und vielleicht auch ich selbst.
Damit kann ich nichts ungeschehen machen, kann aber anders damit umgehen. Mich
Schritt für Schritt aus der lähmenden Fixierung auf meine Selbstzweifel und
Selbstvorwürfe lösen. Mich wieder aufrichten und fragen, was jetzt möglich und
richtig ist, und wieder handlungsfähig werden. Und Gott dabei auf meiner Seite
wissen.
Ein festes Gottvertrauen und
Zuversicht für den Weg, der vor Ihnen liegt, wünscht Ihnen Pfarrer im Ruhestand
Johannes Doering aus Unna.
Musik: If the Rain Comes
Interpreten: Lars Danielsson, Wolfgang Haffner & Julian & Roman
Wasserfuhr; Album: Gravity, Track 10; Label: Label: ACT Music+Vision; LC 07644
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth