Judas

Das geistliche Wort | 12.03.2023 | 00:00 Uhr

Autor: Kennen Sie Judas? Den aus der Bibel? Bestimmt, denn

Judas ist der Inbegriff des Verräters. Da wechselt ein Fußball-Idol zu einem

gegnerischen Verein, und wütende Fans schreien ihm „Judas“ hinterher. Oder ein

Parlaments-Abgeordneter stimmt gegen seine eigene Fraktion und wird dafür

empört als Judas beschimpft. Wenn dann noch herauskommt, dass er dafür einen

„Judaslohn“ in Form von Geld oder Pöstchen erhalten hat, sind ihm Hass und

Verachtung endgültig sicher.

Ich selbst bin in diesem

Sinne vielleicht noch nie zum Judas geworden. Aber bestimmt habe ich schon mal

jemanden verletzt oder enttäuscht. Ich tue nicht immer das Richtige. Auch ich

treffe manchmal fragwürdige Entscheidungen. Unter Druck, aus Ärger oder weil

ich mich irre. Dann bin ich darauf angewiesen, dass andere mir verzeihen. Wie

gehe ich damit um?

Der Judas aus der Bibel mit

dem Beinamen Ischariot war einer der zwölf Jünger Jesu. Zum Passahfest geht

Jesus mit ihnen und vielen weiteren Anhängern nach Jerusalem. Bei seiner

Ankunft bereitet ihm eine große Menschenmenge einen begeisterten Empfang. Kurz

darauf legt er sich mit den Händlern und Geldwechslern an, die vor dem Tempel

ihre Geschäfte machen. Wenige hundert Meter entfernt tagt unter dem Vorsitz des

Hohenpriesters Kaiphas der Hohe Rat, das höchste jüdische Gremium unter der

römischen Oberherrschaft. Kaiphas will Jesus verhaften und hinrichten lassen.

Aber vor den Augen der Menschenmenge wagt er es nicht, weil er dann einen

Aufstand befürchtet.

Da kommt ihm der Verräter

Judas wie gerufen: Er zeigt den Tempelwachen, wo sie Jesus bei Nacht und Nebel

abseits der Menschenmassen finden können. Sie verhaften ihn. Der Hohe Rat macht

ihm den Prozess, verurteilt ihn zum Tode und drängt den römischen Statthalter

Pilatus, das Urteil durch Kreuzigung zu vollstrecken. So jedenfalls berichten

es die Evangelien im Neuen Testament.

Musik: Silent World (feat. Mitchel Forman)

Komponist: Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World,

Track 2; Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Autor: Eine besonders verhängnisvolle Bedeutung hat der

Judas-Vorwurf jahrhundertelang für den Hass und die Hetze gegen Juden gehabt:

Da hat man den Verräter Judas zum Juden schlechthin erklärt und damit das ganze

Judentum als bösartig, heimtückisch und niederträchtig diffamiert. Das hat

schlimme, sogar mörderische Folgen gehabt. Umso mehr lohnt es sich, genauer

hinzusehen.

Warum hat Judas Jesus

verraten? Das Markus-Evangelium, das älteste der vier Evangelien im Neuen

Testament, nennt kein Motiv. Es berichtet nur kurz und knapp:

Sprecher: „Judas Ischariot ging zu den Priestern, um Jesus

zu verraten. Als sie das hörten, freuten sie sich und versprachen, ihm Geld zu

geben.“

(Markus 14,10-11a)

Autor: Das Geld ist nicht der Grund für seine Tat: den Entschluss,

Jesus zu verraten, hat er ja schon vorher gefasst. Er fordert auch kein Geld – der

Hohe Rat sagt es ihm von sich aus zu. Erst Matthäus, der sein Evangelium zehn

bis zwanzig Jahre später geschrieben hat, macht das Geld zum Tatmotiv und nennt

auch eine Summe:

Sprecher: „Judas Ischariot ging zu den Priestern und fragte

sie: Was wollt Ihr mir geben? Ich will ihn Euch verraten. Da boten sie ihm

dreißig Silbermünzen.“

(Matthäus 26,14-15)

Autor: Im Lukas- und im Johannes-Evangelium heißt es, der

Satan sei in Judas gefahren. Im Johannes-Evangelium ist er der Kassenwart der

Jesus-Bewegung und hat dieses Amt die ganze Zeit über dazu missbraucht, sich

persönlich zu bereichern. Judas, das Schwein, der Abschaum, der skrupellose

Satan: für die meisten frühen Christen war klar: hinter so einer abscheulichen

Tat können nur die niederträchtigsten Beweggründe stecken.

Im Matthäus-Evangelium steht

dann allerdings auch, dass Judas seinen Verrat sehr schnell bitter bereut hat:

Sprecher: „Als Judas sah, dass Jesus zum Tode verurteilt

wurde, reute es ihn; er brachte den Priestern und Ältesten die dreißig

Silbermünzen zurück und sagte: ‚Ich habe Unrecht getan, dass ich unschuldiges

Blut vergossen habe.‘ Sie aber sagten: ‚Was geht uns das an? Das ist Deine

Angelegenheit!‘ Da warf er die dreißig Silbermünzen in den Tempel, lief fort

und erhängte sich.“

(Matthäus 27,3-5)

Autor: Woher diese plötzliche Reue? Dazu mit so drastischen

Konsequenzen? Das Todesurteil hat er doch selbst gewollt oder billigend in Kauf

genommen. Eiskalt und skrupellos, für schnödes Geld. Oder vielleicht doch

nicht? „Als er sah, dass Jesus zum Tode verurteilt wurde, reute es ihn:“ das

klingt irgendwie anders. So, als hätte er den Tod Jesu gar nicht gewollt. In

der Tat: eine so abgrundtiefe Reue und Verzweiflung bis dahin, dass er sich das

Leben nimmt, wird ja auch nur verständlich, wenn alles ganz anders gekommen

ist, als Judas es gewollt hatte.

Musik: La Casa

Komponist:

Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World, Track 3;

Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Autor: Was aber, wenn nicht den Tod Jesu, hätte Judas mit

seinem Verrat bezwecken wollen? Man hat vermutet, er sei ein Zelot gewesen. Die

Zeloten waren eine jüdische Partisanenbewegung, die mit Anschlägen und

Überfällen einen Untergrundkrieg gegen die römische Besatzungsmacht geführt

hat. Solche Erwartungen sind auch an Jesus herangetragen worden. Den Messias,

den von den Propheten verheißenen Erlöser, haben sich viele als einen

siegreichen Befreiungskrieger vorgestellt. Jesus aber hat Gewalt abgelehnt und

auch nie Hass gegen Rom gepredigt. Judas, so lautet die Vermutung, will sich

damit nicht abfinden. Er will ihn mit seinem Verrat in die Enge treiben und ihn

zwingen, zum Aufstand aufzurufen. Als aber nichts dergleichen geschieht,

sondern Jesus zum Tode verurteilt wird, muss Judas erkennen, dass er sich

verkalkuliert hat und grausam gescheitert ist.

Judas hat, wenn es so war,

nicht verstanden – oder auch nicht verstehen wollen – dass das, was Jesus

verkündet und verkörpert hat, niemals erzwungen werden kann. Nun bin ich

Realist genug, zu wissen, dass es in dieser Welt nicht immer ohne Druck und

Zwangsmittel geht. So kann kein Staat auf Polizei und Strafgesetzgebung

verzichten. Auch in meinem eigenen Leben lässt sich nicht immer alles mit

Einsicht und gutem Willen regeln. Ich kann nicht immer alles hinnehmen. Mancher

Kompromiss wäre einfach nur faul. Es gibt Situationen, in denen ich klare Kante

zeigen, mich wehren oder auch andere im Kampf um ihr Recht unterstützen muss.

Aber soweit es möglich ist,

versuche ich, Konflikte und Meinungsverschiedenheiten nicht zu Machtkämpfen

geraten zu lassen. Denn die fordern, selbst wenn ich mich durchsetze, ihren

Preis. Manchmal einen sehr hohen. Vielleicht stehe ich am Ende als Sieger vor

einem Scherbenhaufen und frage mich: „War es das wert?“

Nichts erzwingen kann ich vor

allem da, wo es um menschliche Beziehungen geht. Die Liebe eines Menschen kann

ich nicht erzwingen. Wenn ich ihn mit Druck an mich zu binden versuche, treibe

ich ihn erst recht von mir fort. Auch Überzeugungen kann ich nicht erzwingen,

höchstens äußerliche Anpassung. Ich kann auch niemanden unter Druck zur

Einsicht bringen.

Jesus hat das Vertrauen der

Menschen gesucht. Wo sie sich ihm verschlossen haben, konnte er nichts

ausrichten, wie die Evangelien ausdrücklich vermerken. Zugang zu einem Menschen

finden und ihn für mich gewinnen kann auch ich nur, wenn ich ihn nicht

beherrschen und zu nichts zwingen will. Nur wenn ich ihn bejahe, wie er ist,

und nicht, wie ich ihn gern hätte, kann ich bei ihm etwas bewirken. Das heißt

aber auch: meinerseits offen dafür zu sein, mir dabei etwas sagen und meine

Sichtweise verändern zu lassen.

Musik: Rise and Fall

Komponist:

Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Silent World, Track 8;

Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Autor: Vielleicht war Judas aber gar kein

religiös-politischer Fanatiker, sondern voller Angst, dass alles ein böses Ende

nehmen könnte. Jesus hat in kurzer Zeit eine Massenbewegung entfacht. Er hat

zwar nie zum Kampf gegen Rom aufgerufen. Aber die Römer haben auf jede

öffentliche Unruhe rigoros und mit brutaler Gewalt reagiert. Das Passahfest ist

nun ein besonders brisantes Datum, denn es erinnert an die Befreiung der

Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei. Da waren die jüdischen

Freiheitshoffnungen immer schon besonders lebendig. Die Römer haben ihre

Militärpräsenz in Jerusalem verstärkt. Der Hohe Rat befürchtet, das Aufsehen,

das Jesus erregt, könnte sie zu einem gewaltsamen Eingreifen provozieren. So

steht es im Johannes-Evangelium:

Sprecher: „Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut

viele Wunder. Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben, und

dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute.“

(Johannes 11,47b-48)

Autor: Hatte auch Judas Angst vor den Römern? War es das,

was er mit dem Hohen Rat verhandelt hat? Um ein Blutvergießen zu verhindern?

Vielleicht sogar mit dem Hintergedanken, dass Jesus in jüdischer Haft dem

römischen Zugriff entzogen wäre? Das setzt allerdings voraus, dass auch der

Hohe Rat Jesus nicht hinrichten, sondern nur wegsperren will, um seine

öffentlichen Auftritte in diesen Tagen zu unterbinden. Und damit zugleich den

Römern zu signalisieren, dass er die Lage im Griff hat. In der Tat weisen

jüdische Gesprächspartner und Kenner des jüdischen Gesetzes darauf hin, dass

nichts von dem, was Jesus gesagt oder getan hat, nach jüdischem Recht ein

todeswürdiges Verbrechen war.

Der römische Statthalter

Pilatus aber war, wie jüdische und römische Quellen jener Zeit berichten, ein

brutaler Tyrann. Er hat Tausende kreuzigen lassen und mehrere Massaker an der

jüdischen Bevölkerung befohlen. Niemals hätte er sich durch Angehörige eines

unterworfenen Volkes drängen lassen, jemanden kreuzigen zu lassen, an dessen

Hinrichtung er nicht selbst massiv interessiert gewesen wäre! Der Hohe Rat kann

ihn nicht gezwungen haben, Jesus kreuzigen zu lassen! Pilatus wird seinerseits

die Auslieferung dieses brisanten Gefangenen gefordert haben. Als Jesus

ausgeliefert wird, weiß Judas: das ist das Todesurteil.

Bis heute geschieht in dieser

Welt so manches Unheil nicht aus böser Absicht. Da ist einer überzeugt, das

Richtige zu tun, aber dann kommt alles ganz anders. Er macht sich bittere

Vorwürfe: „Hätte ich das doch nur nicht getan! Hätte ich doch anders

entschieden!“ Was dann passiert wäre, weiß allerdings auch niemand. Wäre es

ohne den Verrat des Judas zu einem römischen Massaker gekommen? Der Hohe Rat

schätzt die Gefahr sehr hoch ein und wägt notgedrungen ab. Der Evangelist

Johannes zitiert den Hohenpriester Kaiphas:

Sprecher: „Bedenkt: es ist besser, dass ein Mensch für das

Volk stirbt, als dass das ganze Volk seinetwegen umkäme.“

(Johannes 11,50)

Autor: Das hat er wahrscheinlich auch Judas auf seine

bitteren Vorwürfe geantwortet. Aber Judas ist zu eng mit Jesus verbunden, als

dass er sich damit beruhigen könnte. Er spürt nur eins: er hat Jesus verraten.

Er hat ihn auf dem Gewissen. Das kann er sich nicht verzeihen, und er zerbricht

daran.

Musik: Blue Bar (Feat. Nils

Landgren + Lars Danielsson)

Komponist:

Wolfgang Haffner; Interpret: Wolfgang Haffner; Album: Shapes, Track 6; Label:

ACT Music+Vision; LC 07644

Autor: Kann jemand, der so schwere Schuld auf sich geladen

hat, bei Gott Gnade finden? Ostern, die Auferweckung Jesu und ein Leben bei

Gott: gilt das auch für Judas? Für die christlichen Kirchen war seit je her

klar: Judas ist in alle Ewigkeit verdammt. Aber ich glaube, dass Gott mehr

vergibt, als wir Menschen es für möglich halten. Und wozu wir selber bereit und

in der Lage wären.

Verzeihen ist nicht immer

leicht. Aber es befreit nicht nur den, der mir Unrecht getan hat, sondern auch

mich selbst. An dem, was ich einem anderen Menschen nachtrage, habe ich eben

auch selbst zu tragen. Wenn ich es verzeihen kann, fällt diese Last von mir ab,

und ich kann innerlich damit abschließen. Aber was ist, wenn ich das nicht

kann? Bin ich dann kleinlich oder rachsüchtig oder selbstgerecht? Oder halte

ich anderen nur vor, was sie verbrochen haben, um von eigenen Verfehlungen

abzulenken? Vielleicht. Es ist gut, wenn ich da vor mir selbst ehrlich bin.

Aber es gibt auch Taten und

Gemeinheiten, die so skrupellos, und Schäden und Verletzungen, die so schwer

sind, dass die Betroffenen sie nicht verzeihen können. Dann wäre es auch eine

Zumutung, das von ihnen zu verlangen. Zumindest kann ich von jemandem, der mir

Unrecht getan hat, erwarten, dass er es einsieht. Solange ihm nichts leidtut

und er völlig in Ordnung findet, was er getan hat, kann ich ihm nicht

verzeihen. Und muß es auch nicht.

Noch schwerer aber als

anderen zu vergeben kann es sein, mir selber etwas zu verzeihen. Natürlich

werde ich versuchen, in Ordnung zu bringen, was ich verschuldet habe. Aber ich

werde nicht jeden Schaden beheben, nicht jede falsche Entscheidung rückgängig

machen, nicht alles Versäumte nachholen und nicht mit jedem, den ich verletzt

oder enttäuscht habe, wieder völlig ins Reine kommen können – jedenfalls nicht

so, dass wir einander wieder so unbefangen begegnen könnten wie vorher.

Ich finde es tröstlich, dass

ich mich über all das nicht nur mit Menschen meines Vertrauens aussprechen,

sondern es auch vor Gott bringen kann. Gott, bei dem selbst einer wie Judas auf

Gnade hoffen kann, wird auch über mich gerechter, freundlicher und

nachsichtiger urteilen, als andere es tun – und vielleicht auch ich selbst.

Damit kann ich nichts ungeschehen machen, kann aber anders damit umgehen. Mich

Schritt für Schritt aus der lähmenden Fixierung auf meine Selbstzweifel und

Selbstvorwürfe lösen. Mich wieder aufrichten und fragen, was jetzt möglich und

richtig ist, und wieder handlungsfähig werden. Und Gott dabei auf meiner Seite

wissen.

Ein festes Gottvertrauen und

Zuversicht für den Weg, der vor Ihnen liegt, wünscht Ihnen Pfarrer im Ruhestand

Johannes Doering aus Unna.

Musik: If the Rain Comes

Interpreten: Lars Danielsson, Wolfgang Haffner & Julian & Roman

Wasserfuhr; Album: Gravity, Track 10; Label: Label: ACT Music+Vision; LC 07644

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 12.3.2023
  • Johannes Doering
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