Macht, Ohnmacht und der „Tisch des Herrn“ – Passionsgedanken angesichts des Ukraine-Krieges

„Wär ich allmächtig […], ich würde retten, retten.“ Die Worte von Büchners Lenz haben für mich in den letzten Wochen noch einmal eine besondere Bedeutung bekommen. Wir sehen täglich die Bilder von dem grausamen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des russischen Regimes und dem unvorstellbaren menschlichen Leid, das er in der Ukraine verursacht. Und wir können ihn nicht stoppen. Wir mussten mitansehen, wie im Vorfeld immer mehr Militär an den Grenzen zusammengezogen wurde. Wie jetzt Städte zerbombt, Wohngegenden, Kliniken beschossen werden. Und wir können es nicht stoppen. Trotz aller weiter notwendigen Diplomatie, Sanktionen, Demonstrationen. Trotz der immensen Solidarität mit den Menschen, die jetzt zu uns fliehen. Trotz selbst der Waffenlieferungen zur ukrainischen Selbstverteidigung. Das Töten und Vertreiben von Menschen gehen weiter und weiter und weiter. Ein tiefes Gefühl der Ohnmacht in mir.

Das Spiegelbild dieser Ohnmacht sind die hemmungslose Ausübung und Inszenierung von Macht seitens Wladimir Putins. Das ist nicht nur despotisch im Sinn einer Willkürherrschaft: Er bestimmt allein, was als wahr zu gelten hat in Russland. „Friedensmission“, „Entnazifizierung“, „keine zivilen Opfer“, „Befreiung“ – zynische Verkehrung der Wirklichkeit. Es ist zugleich tyrannisch im Sinne einer Gewalt- und Schreckensherrschaft. Gewalt ist ein selbstverständliches Instrument wie zuvor in Tschetschenien, Südossetien, auf der Krim, in Syrien, wie auch gegenüber oppositionellen Kräften im eigenen Land. Er will, dass andere sich ohnmächtig fühlen. Geradezu symbolisch steht dafür seine Selbstinszenierung am Kopf des sechs Meter langen Tisches. Unnahbar, mächtig, egal ob ausländische Staatsleute oder eigene Minister: Bittsteller allesamt. Geradezu grotesk dann die lange Tee-Tafel mit russischen Stewardessen am Internationalen Frauentag. Die einzigen, die ihm an seinem Tisch nahekommen dürfen: junge, gutaussehende Frauen. Patriarchale Machtgebaren pur.

Als Christinnen und Christen begehen wir im Augenblick die Passionszeit. In ihr spielen auch Ohnmacht und Macht eine zentrale Rolle – und ein ganz anderer „Tisch des Herrn“. So heißt es bei der Einsetzung jedes Abendmahls: „Unser Herr, Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brach’s und gab’s seinen Jüngern und sprach: …“ (1. Kor 11,23f.)

Das Besondere dieses Tisches ist es, dass hier der Herr selbst ohnmächtig ist. Jesus Christus wird verraten werden, verleugnet, Opfer der römischen Staatsgewalt. Doch er verwandelt seine radikale Ohnmacht, indem er Gemeinschaft und Versöhnung stiftet, sich selbst hingibt: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ Das feiern wir im Abendmahl: Als bald Verratener gibt er sich allen, auch dem Verräter. Als bald Verleugneter gibt er sich dem Verleugner. Als bald Verlassener gibt er sich den anderen, lässt alle an sich heran. Als Christinnen und Christen glauben wir, dass Christus genau darin die Herrschaftsverhältnisse ein für allemal verkehrt hat: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ (Markus 10,42ff.)

Nein, die Gewaltherrscher dieser Welt werden nicht Herrscher bleiben. Auch Putin nicht, so sehr auch jetzt Menschen unter der von ihm befohlenen Gewalt leiden müssen, so sehr auch jetzt Macht inszeniert wird. Diese Gewaltherrschaft wird vergehen, genauso wie alle anderen zuvor. Krieg, Grausamkeit und Gewalt gehören zu der unerlösten Welt. Sie sollen nach Gottes Willen nicht sein. Und sie werden einmal vergehen. Sie haben keinen Bestand. So lautet die Verheißung am Ende der Bibel:

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offb 21,4)

Und einmal werden wir gemeinsam am Tisch des Herrn sitzen. Gemeinsam mit Menschen aus allen Ländern. Da wird es kein oben und unten geben. Keine Platzkarten für die Mächtigen. Keine Türsteher, die andere raushalten. Nur Christus, der als die Liebe selbst alle dazu einlädt.

Gebe Gott, dass Krieg und Töten in der Ukraine aufhören, ebenso an vielen anderen Orten – auch wenn wir im Augenblick nicht wissen, wie.

Gebe Gott, dass die Menschen, die jetzt zu uns fliehen, Hilfe und Trost erfahren, ebenso wie die Flüchtenden aus anderen Kriegen.

Und gebe Gott uns die Kraft, für diese Menschen dazu sein und selbst weiter alles zu tun, damit das Töten endet.


Theologische Impulse (113) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 14.3.2022