Schöne Ignoranz

Kirche in WDR3 | 14.06.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Es wuselt nur so in der

Altstadt von Jerusalem. Aus allen Gassen kommen Menschen heraus: Hier eine

christliche Pilgergruppe mit dünnem Gesang: ein Mann geht voran – lange Haare,

weißes Sackkleid, Strick um den Bauch. Er trägt das Kreuz wie Jesus. Dort ein Gruppe

orthodoxer Jüdinnen und Juden: die Männer im langen schwarzen Mantel, mit

Schläfenlocken und schwarzem Hut, die Frauen mit Kopftuch und Perücke. Sie alle

treffen auf eine Gruppe Muslima. Froh gestimmt, lang und festlich gewandet sind

die auf dem Weg zum Zuckerfest; der Ramadan, der Fastenmonat findet sein

fröhliches Ende.

Hier in den engen Gassen der

Jerusalemer Altstadt kommen sich Juden, Christen und Muslime nahe, hautnah.

Denn hier auf engstem Raum sind

ihre heiligen Stätten vereint: die jüdische Klagemauer, die muslimische Al-Aqsa-Moschee

und die christliche Grabeskirche oder – wie manche Kirchen sie lieber nennen –

Auferstehungskirche. In diesem Jahr fielen das jüdische Pessachfest, das

christliche Osterfest und der islamische Fastenmonat Ramadan sogar in die

gleiche Zeit. Das geschieht nur etwa alle 30 Jahre, weil jede Religion ihrem

eigenen Kalender folgt. Viele Pilger sind nun gleichzeitig unterwegs. Wie von

einem unsichtbaren Choreografen gelenkt gleiten sie durch die Gassen. Für einen

kurzen Augenblick kommen sie einander so nah, dass sich ihre Gewänder berühren

und ihr Atem sich kreuzt, dann trennen sich die Pilgerströme wieder. Der

Journalist und Autor Wolfgang Büscher hat das in seinem Buch „Frühling in

Jerusalem“ die „hohe Kunst des Aneinandervorbeigehens, die schöne Jerusalemer

Ignoranz“ genannt. (1)

Damit hätte ich vielleicht

nicht viel anfangen können, wenn es nicht gerade erst am Karfreitag wieder

gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen radikalen jüdischen Siedlern,

aufgebrachten muslimischen Gläubigen und israelischen Sicherheitskräften

gegeben hätte. 150 Menschen sind verletzt worden, viele verhaftet. Davon war in

den Tagen nach Ostern, als ich in Jerusalem war, nichts mehr zu spüren. Die

Lage hatte sich beruhigt. Die Juden, Christen und Muslime übten sich wieder in

der „hohen Kunst des Aneinandervorgehens, der schönen Jerusalemer Ignoranz.“

Und ich – mittendrin – war froh darüber, auch wenn mir sonst ein Miteinander

lieber ist als ein Aneinandervorbei.

Aber manchmal geht das eben

nicht. In der Bibel lese ich von Abraham und Lot. Sie sind miteinander

verwandt, aber sie kommen nicht miteinander klar. Immer wieder gibt es – wie

heute in Israel und Palästina – Streit um das Land. Abraham fasst sich ein

Herz:

„Es soll kein Zank sein

zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind

Brüder“, sagt er zu Lot: „Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so

will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“ (2).

So trennen sich Abraham und Lot – um des lieben Friedens willen. Keine

schlechte Lösung. Aneinandervorbei macht noch kein Fest, aber Ignoranz kann

schön sein – und dem Frieden dienen.

Es grüßt Sie, Pfarrerin

Christel Weber aus Bielefeld.

Quellen:

(1) Wolfgang Büscher, Ein

Frühling in Jerusalem, Reinbek bei Hamburg, 4. Auflage 2021, 107).

(2) Die Bibel, 1. Mose 13,8+9

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/58327_WDR3520220614Weber.mp3

  • 14.6.2022
  • Christel Weber
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