Guten Morgen.
Es wuselt nur so in der
Altstadt von Jerusalem. Aus allen Gassen kommen Menschen heraus: Hier eine
christliche Pilgergruppe mit dünnem Gesang: ein Mann geht voran – lange Haare,
weißes Sackkleid, Strick um den Bauch. Er trägt das Kreuz wie Jesus. Dort ein Gruppe
orthodoxer Jüdinnen und Juden: die Männer im langen schwarzen Mantel, mit
Schläfenlocken und schwarzem Hut, die Frauen mit Kopftuch und Perücke. Sie alle
treffen auf eine Gruppe Muslima. Froh gestimmt, lang und festlich gewandet sind
die auf dem Weg zum Zuckerfest; der Ramadan, der Fastenmonat findet sein
fröhliches Ende.
Hier in den engen Gassen der
Jerusalemer Altstadt kommen sich Juden, Christen und Muslime nahe, hautnah.
Denn hier auf engstem Raum sind
ihre heiligen Stätten vereint: die jüdische Klagemauer, die muslimische Al-Aqsa-Moschee
und die christliche Grabeskirche oder – wie manche Kirchen sie lieber nennen –
Auferstehungskirche. In diesem Jahr fielen das jüdische Pessachfest, das
christliche Osterfest und der islamische Fastenmonat Ramadan sogar in die
gleiche Zeit. Das geschieht nur etwa alle 30 Jahre, weil jede Religion ihrem
eigenen Kalender folgt. Viele Pilger sind nun gleichzeitig unterwegs. Wie von
einem unsichtbaren Choreografen gelenkt gleiten sie durch die Gassen. Für einen
kurzen Augenblick kommen sie einander so nah, dass sich ihre Gewänder berühren
und ihr Atem sich kreuzt, dann trennen sich die Pilgerströme wieder. Der
Journalist und Autor Wolfgang Büscher hat das in seinem Buch „Frühling in
Jerusalem“ die „hohe Kunst des Aneinandervorbeigehens, die schöne Jerusalemer
Ignoranz“ genannt. (1)
Damit hätte ich vielleicht
nicht viel anfangen können, wenn es nicht gerade erst am Karfreitag wieder
gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen radikalen jüdischen Siedlern,
aufgebrachten muslimischen Gläubigen und israelischen Sicherheitskräften
gegeben hätte. 150 Menschen sind verletzt worden, viele verhaftet. Davon war in
den Tagen nach Ostern, als ich in Jerusalem war, nichts mehr zu spüren. Die
Lage hatte sich beruhigt. Die Juden, Christen und Muslime übten sich wieder in
der „hohen Kunst des Aneinandervorgehens, der schönen Jerusalemer Ignoranz.“
Und ich – mittendrin – war froh darüber, auch wenn mir sonst ein Miteinander
lieber ist als ein Aneinandervorbei.
Aber manchmal geht das eben
nicht. In der Bibel lese ich von Abraham und Lot. Sie sind miteinander
verwandt, aber sie kommen nicht miteinander klar. Immer wieder gibt es – wie
heute in Israel und Palästina – Streit um das Land. Abraham fasst sich ein
Herz:
„Es soll kein Zank sein
zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind
Brüder“, sagt er zu Lot: „Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so
will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken.“ (2).
So trennen sich Abraham und Lot – um des lieben Friedens willen. Keine
schlechte Lösung. Aneinandervorbei macht noch kein Fest, aber Ignoranz kann
schön sein – und dem Frieden dienen.
Es grüßt Sie, Pfarrerin
Christel Weber aus Bielefeld.
Quellen:
(1) Wolfgang Büscher, Ein
Frühling in Jerusalem, Reinbek bei Hamburg, 4. Auflage 2021, 107).
(2) Die Bibel, 1. Mose 13,8+9
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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