Sie
steht gebeugt vor den Soldatengräbern auf unserem Friedhof.
Mit
einem Rechen schiebt sie das Laub zur Seite.
Ich
frage sie, ob sie hier die Grabstätte ehrenamtlich pflegt, oder ob sie jemanden
kennt.
Sie
deutet auf ein Kreuz. Darauf der Name und das Lebensalter des Toten.
25
Jahre alt ist er geworden.
„Er
ist doch mein Vater. Den darf ich doch nicht einfach vergessen!“, sagt sie.
Ob
sie sich an ihn erinnern kann, möchte ich wissen.
Sie
sei erst vier Jahre alt gewesen, als er starb.
Aber
sie erinnere sich daran, dass ihr Vater sie überall hin mitgenommen habe.
Oft
habe er seine kleine Tochter auf seinen Schultern getragen.
Oder
„Engelchen-Flieg“ mit ihr gespielt.
„Das
sind schöne Erinnerungen“, sagt sie. „Nicht gerade viele, aber schöne“.
Im
März 1945 ist ihr Vater gefallen. Kurz vor Kriegsende.
„Gefallen“.
Was für ein schreckliches Wort. Was für eine Beschönigung.
Wer
gefallen ist, der steht wieder auf.
Der
Vater der alten Dame ist nicht „gefallen“, er ist getötet worden.
Umgebracht.
Seines Lebens beraubt.
Er
hat nicht miterleben dürfen, wie sein kleines Mädchen aufgewachsen ist, welche
Lebensentscheidungen sie getroffen hat. Und er hat auch seine Enkelin nie
kennengelernt.
Fast
80 Jahre sind seitdem vergangen und wieder tobt ein Krieg in Europa, der das
Potential hat, ungebremst zu eskalieren.
Wieder
sterben junge Männer auf beiden Seiten der Fronten.
Wieder
verlieren Kinder ihre Väter.
Wieder
verlieren Väter ihr Leben und ihre Lebensmöglichkeiten.
Wer
wird in 80 Jahren ihre Gräber pflegen?
Und
wie wird man sich dann an diesen Krieg erinnern?
Krieg
soll nach Gottes Willen nicht sein! Das haben die christlichen Kirchen der
ganzen Welt 1948 in Amsterdam gemeinsam erkannt.
Welchen
Grund Menschen auch immer sehen, andere zu bekriegen – es soll nach Gottes
Willen nicht sein.
Einen
Krieg kann man nicht schönreden, es gibt keinen gerechten, keinen sauberen
Krieg.
Krieg
ist immer brutal, gemein, unmenschlich.
Krieg
hinterlässt nur Opfer.
Die,
die ihres Lebens beraubt werden.
Und
die, die ohne ihre Väter und Männer und Brüder und Söhne weiterleben müssen.
Denen
für die nächsten 80 Jahre nur Grabsteine bleiben.
„Er
ist doch mein Vater. Den darf ich doch nicht einfach vergessen!“, hat die alte
Dame auf unserem Friedhof gesagt.
Nein,
niemand darf die Getöteten vergessen.
Lassen
Sie uns beten, dass der Krieg in Europa bald zu Ende geht.
Die
Liste der Toten nicht ins Unendliche geht.
Krieg
soll nach Gottes Willen nicht sein.
Um
der Menschen willen.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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