Guten Morgen.
Vielleicht kennen Sie das auch: Eins Ihrer
Körperteile tut nicht das, was es soll:
Das Ohr pfeift, das Knie schmerzt, der Magen krampft.
Jede und jeder hat seine, ihre eigene Achillesferse.
Bei mir ist es meine linke Hand. Sie zittert.
Das tut sie eigentlich schon immer. Essentieller
Tremor. Nicht weiter schlimm.
Manchmal kann das nur lästig sein, etwa beim Halten
von Suppenschälchen auf Empfängen.
Nun will ich mich gar nicht beschweren. Handicaps
gehören zum Menschsein dazu.
Was wäre unsere Menschheit ohne die vielen berühmten
Gehandicapten:
Mose hat wohl gestottert. Sokrates war ausnehmend
hässlich. Aristoteles Epileptiker. Thomas von Aquin adipös. Bei Mozart besteht
Verdacht auf Tourette-Syndrom.
Frida Kahlo litt an Kinderlähmung und Spina bifida.
Und Lady Gaga hat neben Bulimie eine Autoimmun-Krankheit.
Wie wäre die Geistes- und Kulturgeschichte
eigentlich verlaufen, wenn man damals schon eine umfassende Diagnose vor der
Geburt hätte durchführen können:
„Herr und Frau Einstein, ich muss Ihnen leider
mitteilen, Ihr Kind könnte möglicherweise behindert sein“?
Wir hätten lauter kerngesunde Schaufensterpuppen,
mit ruhigen Händen.
Ohne körperliches oder psychisches Leiden
wegzureden:
„Behinderung“ ist der Ausdruck für eine
Gesellschaft, die mit den besonderen Einschränkungen von Menschen nicht umgehen
kann.
In Kindheit und Alter gehören Handicaps ohnehin
flächendeckend dazu.
Menschen werden heute durchschnittlich 80, 85 Jahre
alt. Da ist es schon verwunderlich, dass wir vielleicht ein Drittel unseres
Lebens als „normal“ ansehen, die Jahre zwischen 15 und 40. Der Rest ist
„handicap-time“.
Entscheidend ist doch: Wie lerne ich, mit meinen
Einschränkungen umzugehen?
Nicht nur praktisch – Suppe vermeiden -, sondern
auch, wie ich mich verstehe.
In der Bibel spielt das eine große Rolle. Etwa in
den Berufungsgeschichten von Prophetinnen und Propheten. Sie laufen meist nach
einem ähnlichen Schema ab.
Gott beauftragt einen Menschen. Und der sagt: „Wieso
ich, Herr? Ich bin zu klein, dick, dumm oder hässlich und überhaupt
ungeschickt.“
Und Gott sagt: „Tu es trotzdem. Denn ich bin mit dir.“
Das finde ich hilfreich. Lass dich durch nichts und
niemand von deiner Bestimmung abhalten. Eine ältere Gottesdienstbesucherin, die
nur noch schwer hören und laufen konnte, hat das einmal so ausgedrückt:
„Ich lasse mir doch durch meine Krankheit nicht
vorschreiben, was ich tue oder
nicht.“
Was also auch immer
Ihr persönliches Handicap ist, liebe Hörerin, lieber Hörer: Folgen Sie Ihrer
Berufung!
Und vor allem: Lassen Sie uns gemeinsam daran
arbeiten, dass jede und jeder dazugehört.
Nicht Menschen sind behindert. Sondern Treppen,
Automaten, kleine Schriften – sie behindern, wenn sie die besondere Eigenart
von Menschen nicht im Blick haben.
Ich wünsche Ihnen einen gesegneten, barrierearmen
Tag.
Ihr Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche
im Rheinland.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze
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