Bird on the wire – Corona und evangelische Freiheit

Eine Schlüsselfrage in der über anderthalbjährigen Corona-Zeit ist die nach der „Freiheit“:

Wie viele Einschränkungen individueller Freiheitsrechte sind zulässig bzw. notwendig?

Wie lassen sich umgekehrt Pflichten und Zwänge begründen? Masken ja, Händewaschen sowieso, Impfen nur freiwillig, aber eigentlich sollten es doch alle machen.

Freiheit ist eine Schlüsselfrage der Corona-Zeit – und ein Zentralbegriff protestantischer Identität:

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit.
Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1)

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“

Doch was bedeutet diese Dialektik evangelischer Freiheit in Zeiten von Corona?

Und vor allem: Wie lebt man sie?

Like a bird on the wire
Like a drunk in a midnight choir
I have tried in my way to be free

Leonard Cohen besingt in dem Lied „Bird on the wire“ in starken poetischen Bildern den Drahtseilakt gelebter Freiheit. Mit Freiheit konkret umzugehen, ist nie einfach. Etwa bei der Frage, wann wir wie miteinander in Gottesdiensten singen können. Mal ist es wunderschön wie bei den Vögeln auf der Leitung, mal unangemessen wie ein nächtlicher Chor von Besoffenen. Es kommt darauf an. Der schmale Grat zwischen freiem Gesang und infektiöser Gefahr verläuft über Inzidenz-Kurven.

Like a worm on a hook
Like a knight from some old-fashioned book
I have saved all my ribbons for thee

Unsere Masken als Bänder der Freiheit – sie changieren: irgendwo zwischen der Angelleine im Mund des pandemie-gefangenen Menschen und Turnierbändern im kollektiven Kampf gegen das Virus. Zeichen gelebter Solidarität wie sozialer Distanz zugleich. Mit beidem treten wir voreinander und vor Gott. Verantwortlich und gefangen zugleich.

For like a baby, stillborn
Like a beast with his horn
I have torn everyone who reached out for me

Diese Pandemie hat etwas mit den Menschen gemacht, auch mit mir. Mal bin ich wie totgeboren: leblos, ausgebremst, bevor es begann. Mal wie ein gehörntes Biest, wie ein Monster: weder sozial-verträglich noch wirklich menschlich. „Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.“ Sei es in der Quarantäne oder im dauerhaften Home-Office.

Und dann folgt die Beichte. Mit Jens Spahn gesprochen: „Wir werden uns viel zu vergeben haben.“

If I, if I have been unkind
I hope that you can just let it go by
If I, if I have been untrue
I hope you know it was never to you

Sie kommt gestottert daher: „Wenn ich, wenn ich …“: Wenn ich andere verletzt, verrissen, verleumdet habe. Wenn ich in dem anderen Mitmenschen nur noch den Impfverweigerer oder die Politikgläubige, die Querdenkerin oder den Übervorsichtigen sehe. All diese Momente des Corona-Monsters in mir.

Meine Versuche, es wieder gut zu machen, sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Allen heiligen Schwüren zum Trotz.

But I swear by this song
And by all that I have done wrong
I will make it all up to thee

Ich schwöre dir bei der Gewissheit all dessen, was ich falsch gemacht habe, es alles wieder gut zu machen. Ein gerade in seiner absurden Selbstwidersprüchlichkeit starker Gedanke. So sehr ich es ersehne, besinge, beschwöre: Ich habe in mir keinen archimedischen Punkt, alles wieder gut zu machen.

I saw a beggar leaning on his wooden crutch
He said to me, „you must not ask for so much“
And a pretty woman leaning in her darkened door
She cried to me, „hey, why not ask for more?“

Freiheit – sie bleibt ein Drahtseil, auf dem wir zu leben versuchen. Schmal, ohne wirkliche Fläche, mit Absturzgefahren auf allen Seiten. In den archetypischen Bildern des Liedes: zwischen der Einflüsterung des alten weisen Mannes einerseits: „Lerne, dich mit dem zu begnügen, was du hast.“ Und der verführerischen Frau vor der dunklen Tür andererseits: „Warum nicht mehr?“ Es ist gut, diese Spannung in mir selbst zu entdecken. Das ist hilfreich, um kein „othering“ zu betreiben. Ich finde die Haltung von Impfverweigerern oder gar Corona-Leugnern rational unbegründet und ethisch unverantwortlich. Und sie gehen mir, offen gesagt, ziemlich auf die Nerven. Dennoch ist die Versuchung, genervt überzureagieren und harte Wirklichkeiten zu negieren, wohl vielen von uns näher, als uns lieb ist.

Like a bird on the wire Like a drunk in a midnight choir I have tried in my way to be free

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit.
Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!“ (Gal 5,1)

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemanden untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“

Wir haben einander in der Pandemie viel zugemutet, weil Freiheit nur so zu haben ist: als Zu-Mutung. Als riskantes Geschenk, das wir in Liebe zueinander und füreinander wagen. Christlicher Glaube lässt sich dabei als eine „Freiheit zweiter Ordnung“ verstehen. Mit einer Formulierung von Hanna Arendt gesprochen: als „Freiheit, frei zu sein“. Wir können nur auf unsere je eigene Weise frei sein und werden auf unsere je eigene Weise daran scheitern. Der Glaube an den Gekreuzigten hilft uns dabei: Immer wieder neu tapfer zu scheitern beim Versuch, auf unsere je eigene Weise frei zu sein und einander zu lieben.

 

Maskenfrei

Einmal werden wir
die Bänder unserer Masken zerschneiden
und sie werden wehen
in Rinnsteinen und auf Müllhalden:
Angelschnüre der Pandemie,
Turnierbänder des Kampfes,
Gebetsfahnen unserer Freiheit.

Einmal werden wir
wieder aus voller Kehle singen
besoffen-schön, krähen-schief,
ohne Ab- und Anstand, Arm in Arm,
in der Hoffnung, dass du dann da bist,
mich erkennst, mir verzeihst.

Einmal werden wir
auf unsere eigene Weise
frei sein
wie die Vögel
trunken vom Wind
und über unsere Flüge
werden die Himmel erröten.
Amen.

 


Theologische Impulse (105) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 9.10.2021