Musik 1: Orgel
Titel: Das Volk, das
noch im Finstern wandelt; Album: Orgelimprovistionen Vol. 1. Advent;
Komponist/Interpret: Ingo Bredenbach; LC:
07811-ambiente
Autor (overvoice): 730 vor Christus. Das Assyrische Reich dehnt sich
nach Westen und Süden aus. Der Kleinstaat Juda liegt der Großmacht im Weg, er hat
kaum eine Chance gegen sie. Juda versucht sich zu retten, indem es die
assyrische Oberherrschaft anerkennt.
In der Hauptstadt Jerusalem lebt ein Mann namens
Jeschajahu. Er leidet darunter, dass sein Volk so von einer fremden, dunklen
Macht unterdrückt wird. Er ist sicher: Der Gott Israels will das nicht. Er will
nicht, dass sein Volk in Finsternis lebt. Und Jeschajahu, auch Jesaja genannt, hat
eine Vision:
Sprecher: „Das
Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da
wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst
groß die Freude. (…) Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer
Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen (…). (Jes 9,1-2a.3)
Musik
2: Choral Strophe 1
Titel: Das Volk, das
noch im Finstern wandelt; Text: Jürgen Henkys (1981); Melodie:
Frits Mehrtens (1959); Komponist, Satz: Stefan Gehrt; Chor: Lüdenscheider
Vokalensemble; Leitung: Mary Sherburne; CD: WDR-Archivnummer: 508 3662 109 (Eigenproduktion WDR)
Sprecherin
(Overvoice):
Das Volk, das noch
im Finstern wandelt –
bald sieht es Licht,
ein großes Licht.
Heb in den Himmel
dein Gesicht
und steh und
lausche, weil Gott handelt.
Autor:
1956 nach Christus.
Der niederländische Historiker und Dichter Jan Willem Schulte Nordholt
veröffentlicht sein Buch „Het volk dat in duisternis wandelt. De geschiedenis van de
negers in Amerika“ – Das Volk, das im Finstern wandelt. Die Geschichte der
Neger in Amerika. Diese Bezeichnung war damals noch üblich.
Schulte
Nordholt wählt als Titel für sein historisches Werk das Zitat aus dem
alttestamentlichen Buch Jesaja. Eine Geschichte der Unterdrückung. Und das Lied,
das er drei Jahre später verfasst, beginnt ebenfalls mit den Worten: „Het volk dat wandelt in het duister“.
Damals sind die
Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA noch nicht einmal auf dem Papier den
Weißen gleichgestellt, es gibt noch rassistische Gesetze. Von dieser Situation,
mit der sich der Historiker
befasst hat, lässt sich nun der Dichter Jan Willem Schulte Nordholt anregen.
Schon lange
vorher haben sich die Schwarzen in den USA mit dem versklavten Volk Israel der
Bibel identifiziert. Brutale Unterdrückung und Zwangsarbeit in Ägypten: Das ist
unsere Geschichte, haben die christlichen Sklaven erkannt. Und sie haben
gesungen: „Let my people go!“, lass mein Volk ziehen! Und sie haben sich in dem
berühmten Lied gegenseitig bestärkt: „Oh let us all from bondage flee“, lasst
uns alle aus der Knechtschaft fliehen. Christus schenkt
Freiheit: „And let us all in Christ be free!“
Musik
2: Choral Strophe 2
Sprecherin
(Overvoice):
Die ihr noch wohnt
im Tal der Tränen,
wo Tod den schwarzen
Schatten wirft:
Schon hört ihr
Gottes Schritt, ihr dürft
euch jetzt nicht
mehr verlassen wähnen.
Autor: 1981. Jürgen Henkys, Dozent der Kirchlichen Hochschule
in Ost-Berlin, überträgt das Lied von Schulte Nordholt aus dem Niederländischen
ins Deutsche. Die Friedensvision des Propheten ist hier entfaltet und
ausgeschmückt. Nichts bleibt übrig von Soldatenstiefeln und blutgetränkten
Uniformen, so heißt es bei Jesaja.
Sprecher:
Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut
geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. (Jes 9,4)
Denn einer wird
kommen und dem Bösen Einhalt gebieten. Er wird
mächtiger sein als der Tod. Umsichtig und klug wird er regieren, mit göttlicher
Macht, das Wohlergehen seines Volkes, den Frieden im Blick.
Musik
2: Choral Strophe 3 und 5
Sprecherin
(Overvoice):
Er kommt mit
Frieden. Nie mehr Klagen,
nie Krieg, Verrat
und bittre Zeit!
Kein Kind, das
nachts erschrocken schreit,
weil Stiefel auf das
Pflaster schlagen.
Man singt: „Ein Sohn
ist uns gegeben,
Sohn Gottes, der das
Zepter hält,
der gute Hirt, das Licht
der Welt,
der Weg, die
Wahrheit und das Leben.“
Sprecher: (…) und er heißt Wunder-Rat,
Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und
des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich; dass er’s
stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit (…). (Jes 9,5b-6a)
Musik
2: Choral Strophe 6
Sprecherin
(Overvoice):
Noch andre Namen
wird er führen:
Er heißt Gottheld
und Wunderrat.
Und Vater aller
Ewigkeit.
Der Friedefürst wird
uns regieren!
Autor: Große Literatur spricht zu verschiedenen Menschen in verschiedenen Zeiten. Christen
haben diese jüdische Vision von Anfang an auf Jesus hingedeutet, den Sohn der
Maria. In ihm hat sich die Hoffnung auf den Erlöser Israels erfüllt. So sagt es
der Engel, der Maria verkündigt, dass sie einen Sohn gebären wird:
Sprecher: Der wird groß sein und Sohn des Höchsten
genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben,
und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird
kein Ende haben. (Lk 1,32-33)
Autor: Wenn der
Evangelist Lukas hier den Propheten Jesaja zitiert, ist den meisten Gläubigen in
den jüdischen Gemeinden diese Verheißung vertraut. Die an Gott glauben, sollen
verstehen: Er, von dem die Propheten gesprochen haben, er ist endlich da!
Aber – ist das wirklich erlaubt, die hebräische
Bibel so in Anspruch zu nehmen?
Im Lauf von 2000 Jahren hat die christliche Sicht
auf das Judentum viel Unheil angerichtet. Die jüdische Religion wurde
verachtet, als Figur mit verbundenen Augen dargestellt, die ihre Bibel liest,
aber nicht versteht. Und Schlimmeres. Die Geschichte der christlich-jüdischen
Beziehungen ist überwiegend eine Geschichte der Gewalt und der Schuld.
Diese Schuld sehen heute die allermeisten
evangelischen Kirchen. Und bekennen klar: Es steht uns nicht zu, Menschen
jüdischen Glaubens zu sagen, wie sie ihre Heiligen Schriften zu verstehen
haben. Die Geschichte, die Gott mit seinem Volk hat und noch haben wird, ist
die Sache Gottes und seines Volkes.
Doch für Christinnen und Christen ist Jesus der
Sohn Gottes, der Friedefürst, das Licht der Welt für alle, die im Finstern
wandeln.
Das war für die Sklaven in Nordamerika keine Frage.
Sie haben sich in den Geschichten vom versklavten Volk Israel wiedererkannt.
Und das glaube auch ich – in allem Respekt vor dem Judentum,
der Wurzel meines Glaubens. Ich glaube, dass der Gott der Juden, der Gott Jesu,
groß genug ist, um mit seinem Volk einen eigenen Weg zu gehen.
Und mit Jan Willem Schulte Nordholt und Jürgen
Henkys, den Dichtern unseres Chorals, teile ich die Hoffnung, die auch der Jude
Paulus hatte: Am Ende der Zeiten ist die Versöhnung allumfassend.
Sprecher: Wenn aber alles ihm untertan sein wird,
dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen
hat, auf dass Gott sei alles in allem. (1 Kor 15,28)
Musik
6: Choral Strophe 8
Sprecherin
(Overvoice):
Dann stehen Mensch
und Mensch zusammen
Vor eines Herren
Angesicht,
und alle, alle
schaun ins Licht
und er kennt
jedermann mit Namen.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth