Das Volk, das noch im Finstern wandert (eg 20)

Choralandacht | 04.12.2021 | 00:00 Uhr

Musik 1: Orgel

Titel: Das Volk, das

noch im Finstern wandelt; Album: Orgelimprovistionen Vol. 1. Advent;

Komponist/Interpret: Ingo Bredenbach; LC:

07811-ambiente

Autor (overvoice): 730 vor Christus. Das Assyrische Reich dehnt sich

nach Westen und Süden aus. Der Kleinstaat Juda liegt der Großmacht im Weg, er hat

kaum eine Chance gegen sie. Juda versucht sich zu retten, indem es die

assyrische Oberherrschaft anerkennt.

In der Hauptstadt Jerusalem lebt ein Mann namens

Jeschajahu. Er leidet darunter, dass sein Volk so von einer fremden, dunklen

Macht unterdrückt wird. Er ist sicher: Der Gott Israels will das nicht. Er will

nicht, dass sein Volk in Finsternis lebt. Und Jeschajahu, auch Jesaja genannt, hat

eine Vision:

Sprecher: „Das

Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da

wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst

groß die Freude. (…) Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer

Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen (…). (Jes 9,1-2a.3)

Musik

2: Choral Strophe 1

Titel: Das Volk, das

noch im Finstern wandelt; Text: Jürgen Henkys (1981); Melodie:

Frits Mehrtens (1959); Komponist, Satz: Stefan Gehrt; Chor: Lüdenscheider

Vokalensemble; Leitung: Mary Sherburne; CD: WDR-Archivnummer: 508 3662 109 (Eigenproduktion WDR)

Sprecherin

(Overvoice):

Das Volk, das noch

im Finstern wandelt –

bald sieht es Licht,

ein großes Licht.

Heb in den Himmel

dein Gesicht

und steh und

lausche, weil Gott handelt.

Autor:

1956 nach Christus.

Der niederländische Historiker und Dichter Jan Willem Schulte Nordholt

veröffentlicht sein Buch „Het volk dat in duisternis wandelt. De geschiedenis van de

negers in Amerika“ – Das Volk, das im Finstern wandelt. Die Geschichte der

Neger in Amerika. Diese Bezeichnung war damals noch üblich.

Schulte

Nordholt wählt als Titel für sein historisches Werk das Zitat aus dem

alttestamentlichen Buch Jesaja. Eine Geschichte der Unterdrückung. Und das Lied,

das er drei Jahre später verfasst, beginnt ebenfalls mit den Worten: „Het volk dat wandelt in het duister“.

Damals sind die

Menschen mit dunkler Hautfarbe in den USA noch nicht einmal auf dem Papier den

Weißen gleichgestellt, es gibt noch rassistische Gesetze. Von dieser Situation,

mit der sich der Historiker

befasst hat, lässt sich nun der Dichter Jan Willem Schulte Nordholt anregen.

Schon lange

vorher haben sich die Schwarzen in den USA mit dem versklavten Volk Israel der

Bibel identifiziert. Brutale Unterdrückung und Zwangsarbeit in Ägypten: Das ist

unsere Geschichte, haben die christlichen Sklaven erkannt. Und sie haben

gesungen: „Let my people go!“, lass mein Volk ziehen! Und sie haben sich in dem

berühmten Lied gegenseitig bestärkt: „Oh let us all from bondage flee“, lasst

uns alle aus der Knechtschaft fliehen. Christus schenkt

Freiheit: „And let us all in Christ be free!“

Musik

2: Choral Strophe 2

Sprecherin

(Overvoice):

Die ihr noch wohnt

im Tal der Tränen,

wo Tod den schwarzen

Schatten wirft:

Schon hört ihr

Gottes Schritt, ihr dürft

euch jetzt nicht

mehr verlassen wähnen.

Autor: 1981. Jürgen Henkys, Dozent der Kirchlichen Hochschule

in Ost-Berlin, überträgt das Lied von Schulte Nordholt aus dem Niederländischen

ins Deutsche. Die Friedensvision des Propheten ist hier entfaltet und

ausgeschmückt. Nichts bleibt übrig von Soldatenstiefeln und blutgetränkten

Uniformen, so heißt es bei Jesaja.

Sprecher:

Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut

geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. (Jes 9,4)

Denn einer wird

kommen und dem Bösen Einhalt gebieten. Er wird

mächtiger sein als der Tod. Umsichtig und klug wird er regieren, mit göttlicher

Macht, das Wohlergehen seines Volkes, den Frieden im Blick.

Musik

2: Choral Strophe 3 und 5

Sprecherin

(Overvoice):

Er kommt mit

Frieden. Nie mehr Klagen,

nie Krieg, Verrat

und bittre Zeit!

Kein Kind, das

nachts erschrocken schreit,

weil Stiefel auf das

Pflaster schlagen.

Man singt: „Ein Sohn

ist uns gegeben,

Sohn Gottes, der das

Zepter hält,

der gute Hirt, das Licht

der Welt,

der Weg, die

Wahrheit und das Leben.“

Sprecher: (…) und er heißt Wunder-Rat,

Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und

des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich; dass er’s

stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit (…). (Jes 9,5b-6a)

Musik

2: Choral Strophe 6

Sprecherin

(Overvoice):

Noch andre Namen

wird er führen:

Er heißt Gottheld

und Wunderrat.

Und Vater aller

Ewigkeit.

Der Friedefürst wird

uns regieren!

Autor: Große Literatur spricht zu verschiedenen Menschen in verschiedenen Zeiten. Christen

haben diese jüdische Vision von Anfang an auf Jesus hingedeutet, den Sohn der

Maria. In ihm hat sich die Hoffnung auf den Erlöser Israels erfüllt. So sagt es

der Engel, der Maria verkündigt, dass sie einen Sohn gebären wird:

Sprecher: Der wird groß sein und Sohn des Höchsten

genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben,

und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird

kein Ende haben. (Lk 1,32-33)

Autor: Wenn der

Evangelist Lukas hier den Propheten Jesaja zitiert, ist den meisten Gläubigen in

den jüdischen Gemeinden diese Verheißung vertraut. Die an Gott glauben, sollen

verstehen: Er, von dem die Propheten gesprochen haben, er ist endlich da!

Aber – ist das wirklich erlaubt, die hebräische

Bibel so in Anspruch zu nehmen?

Im Lauf von 2000 Jahren hat die christliche Sicht

auf das Judentum viel Unheil angerichtet. Die jüdische Religion wurde

verachtet, als Figur mit verbundenen Augen dargestellt, die ihre Bibel liest,

aber nicht versteht. Und Schlimmeres. Die Geschichte der christlich-jüdischen

Beziehungen ist überwiegend eine Geschichte der Gewalt und der Schuld.

Diese Schuld sehen heute die allermeisten

evangelischen Kirchen. Und bekennen klar: Es steht uns nicht zu, Menschen

jüdischen Glaubens zu sagen, wie sie ihre Heiligen Schriften zu verstehen

haben. Die Geschichte, die Gott mit seinem Volk hat und noch haben wird, ist

die Sache Gottes und seines Volkes.

Doch für Christinnen und Christen ist Jesus der

Sohn Gottes, der Friedefürst, das Licht der Welt für alle, die im Finstern

wandeln.

Das war für die Sklaven in Nordamerika keine Frage.

Sie haben sich in den Geschichten vom versklavten Volk Israel wiedererkannt.

Und das glaube auch ich – in allem Respekt vor dem Judentum,

der Wurzel meines Glaubens. Ich glaube, dass der Gott der Juden, der Gott Jesu,

groß genug ist, um mit seinem Volk einen eigenen Weg zu gehen.

Und mit Jan Willem Schulte Nordholt und Jürgen

Henkys, den Dichtern unseres Chorals, teile ich die Hoffnung, die auch der Jude

Paulus hatte: Am Ende der Zeiten ist die Versöhnung allumfassend.

Sprecher: Wenn aber alles ihm untertan sein wird,

dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen

hat, auf dass Gott sei alles in allem. (1 Kor 15,28)

Musik

6: Choral Strophe 8

Sprecherin

(Overvoice):

Dann stehen Mensch

und Mensch zusammen

Vor eines Herren

Angesicht,

und alle, alle

schaun ins Licht

und er kennt

jedermann mit Namen.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 4.12.2021
  • Andreas Duderstedt
  • © CCO Pixabay