Meine Wahrheit, deine Wahrheit

Kirche in WDR2 | 17.10.2022 | 00:00 Uhr

Donnerstagnachmittag. Rhein-Ruhr-Zentrum Mülheim. Ein

junger Mann sitzt auf einer Bank vor einem schicken Modegeschäft. Er hält ein

Baby im Arm. Winzig. Erst ein paar Monate alt. Er lächelt es glücklich an. Dann

holt er, etwas umständlich, ein Fläschchen aus einer Tasche. Prüft gewissenhaft

die Temperatur und beginnt, das Kind zu füttern. Ganz konzentriert. Losgelöst

von all dem Trubel ringsherum. Ein schönes Bild.

Plötzlich bauen sich zwei

Frauen vor ihm auf. Und schimpfen: Was ihm denn einfällt? Ob er nicht weiß, dass

man ein Kind auf jeden Fall stillen muss? Schlimm! Verantwortungslos! Bevor der

junge Mann reagieren kann, ist das Gewitter auch schon wieder vorbei. Die

beiden Frauen verschwunden. Der junge Mann wird rot. „Was war das denn?“ Nun,

das war jemand, der ganz genau weiß, was man darf und was nicht. Und der einem

das auch unbedingt sagen muss.

Kann es sein, dass einem solche Menschen in

letzter Zeit häufiger begegnen? Missionare ihrer eigenen Wahrheit? Die einem

wütend mitteilen müssen, dass man „in der heutigen Zeit“ doch wohl nicht mehr

mit gutem Gewissen in den Urlaub fliegen kann. Oder Auto fahren, Fleisch essen

oder Kinder bekommen. Je nach dem, was für sie so gerade Wahrheit ist.

Ich weiß

nicht: Woran liegt das? An der Pandemie vielleicht? Dass man die Nähe anderer

Menschen mit anderen Lebens-Ideen nicht mehr gewohnt ist? An den Meinungsblasen

in den Medien? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Mir ist es zu viel. Vor allem,

weil ich merke: Irgendwie färbt das ab. Immer wieder erwische ich mich, wie ich

auch denke:Wieso verstehe ich eigentlich als Einziger, worum es geht?

Das ist

ein Problem. Denn: Wer meint, er hat die Wahrheit in der Tasche, landet sehr

schnell dabei, dass er auf die herabsieht, die einfach anders leben wollen. Da

ist der Weg zu Missachtung und Hass nicht mehr weit. Das ist eine Art

eingebauter Fehler jeder absoluten Wahrheit.

Jesus konnte übrigens

mit dieser Art von absoluter Wahrheit auch wenig anfangen. Als er einmal

gefragt wird, wie er seine Botschaft auf den Punkt bringen würde, fallen ihm

zwei kleine Sätze ein:

„Liebe Gott. Und liebe deinen Mitmenschen.“ (Mk 12,

31+32) Keine ewigen Wahrheiten. Keine große philosophische Lehre. Ihm geht es

um Liebe. Nicht ums Rechthaben.

Vielleicht gar keine schlechte Idee: Die

absoluten Wahrheiten mal für einen Moment in die Ecke zu stellen, und sich

lieber mehr füreinander zu interessieren. Dann würde bestimmt weniger

geschimpft. Und mehr zugehört. Weniger gewusst. Und mehr verstanden. Und das

wäre doch nicht schlecht, oder?

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/59412_WDR220221017Schroedter.mp3

  • 17.10.2022
  • Thomas Schrödter
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