Donnerstagnachmittag. Rhein-Ruhr-Zentrum Mülheim. Ein
junger Mann sitzt auf einer Bank vor einem schicken Modegeschäft. Er hält ein
Baby im Arm. Winzig. Erst ein paar Monate alt. Er lächelt es glücklich an. Dann
holt er, etwas umständlich, ein Fläschchen aus einer Tasche. Prüft gewissenhaft
die Temperatur und beginnt, das Kind zu füttern. Ganz konzentriert. Losgelöst
von all dem Trubel ringsherum. Ein schönes Bild.
Plötzlich bauen sich zwei
Frauen vor ihm auf. Und schimpfen: Was ihm denn einfällt? Ob er nicht weiß, dass
man ein Kind auf jeden Fall stillen muss? Schlimm! Verantwortungslos! Bevor der
junge Mann reagieren kann, ist das Gewitter auch schon wieder vorbei. Die
beiden Frauen verschwunden. Der junge Mann wird rot. „Was war das denn?“ Nun,
das war jemand, der ganz genau weiß, was man darf und was nicht. Und der einem
das auch unbedingt sagen muss.
Kann es sein, dass einem solche Menschen in
letzter Zeit häufiger begegnen? Missionare ihrer eigenen Wahrheit? Die einem
wütend mitteilen müssen, dass man „in der heutigen Zeit“ doch wohl nicht mehr
mit gutem Gewissen in den Urlaub fliegen kann. Oder Auto fahren, Fleisch essen
oder Kinder bekommen. Je nach dem, was für sie so gerade Wahrheit ist.
Ich weiß
nicht: Woran liegt das? An der Pandemie vielleicht? Dass man die Nähe anderer
Menschen mit anderen Lebens-Ideen nicht mehr gewohnt ist? An den Meinungsblasen
in den Medien? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Mir ist es zu viel. Vor allem,
weil ich merke: Irgendwie färbt das ab. Immer wieder erwische ich mich, wie ich
auch denke:Wieso verstehe ich eigentlich als Einziger, worum es geht?
Das ist
ein Problem. Denn: Wer meint, er hat die Wahrheit in der Tasche, landet sehr
schnell dabei, dass er auf die herabsieht, die einfach anders leben wollen. Da
ist der Weg zu Missachtung und Hass nicht mehr weit. Das ist eine Art
eingebauter Fehler jeder absoluten Wahrheit.
Jesus konnte übrigens
mit dieser Art von absoluter Wahrheit auch wenig anfangen. Als er einmal
gefragt wird, wie er seine Botschaft auf den Punkt bringen würde, fallen ihm
zwei kleine Sätze ein:
„Liebe Gott. Und liebe deinen Mitmenschen.“ (Mk 12,
31+32) Keine ewigen Wahrheiten. Keine große philosophische Lehre. Ihm geht es
um Liebe. Nicht ums Rechthaben.
Vielleicht gar keine schlechte Idee: Die
absoluten Wahrheiten mal für einen Moment in die Ecke zu stellen, und sich
lieber mehr füreinander zu interessieren. Dann würde bestimmt weniger
geschimpft. Und mehr zugehört. Weniger gewusst. Und mehr verstanden. Und das
wäre doch nicht schlecht, oder?
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
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