Titus Reinmuth (TR) Guten Morgen. Hier sind Titus Reinmuth, Rundfunkpfarrer
aus Wassenberg und…
Siegfried Eckert (SE) Siegfried Eckert, Gemeindepfarrer in Bonn.
TR: Wir beide kennen uns aus der ein oder anderen
Zusammenarbeit. Deswegen sind wir per Du und sind hier heute im Gespräch über
die Psalmen der Bibel, unseres sogenannten Alten Testamentes, der Hebräischen
Bibel. Siegfried Eckert hat sie in langer, ausgiebiger Arbeit übertragen, in
heutige Sprache, in heutige Bilder. Und daraus ist ein Buch geworden, das heißt
Blaulichtgebete. Wieso Blaulichtgebete?
SE: Na ja, ich hatte als Theologiestudent das Glück, mal
Hilde Domin kennenzulernen, eine Lyrikerin mit jüdischem Hintergrund. Und sie
sagte, die meisten Gedichte bei ihr entstehen aus dem Schmerz heraus. Und ich
finde, Psalmen sind solche Blaulichtgebete im Sinne von „da muss ein Schmerz
raus“. Viele Psalmen sind vom Schmerz genährt und getragen. Und auch diese Übertragung
war ja auch wie so ein Blaulichtgebet, auch von einer gewissen Not und von
einem Schmerz herausgetragen. Und diese Energie kommt in den Gebeten zum
Ausdruck. Es ist Hilde Domin gewidmet, dieses Psalm-Buch. Und ich finde
Blaulichtgebete drückt viel aus.
TR: Nun war das ja, hast du schon angedeutet, keine
akademische Übung für dich, sondern auch du warst in einer Lage, die
schmerzhaft war und hast dich nicht einfach so, sondern eben in einer
bestimmten Zeit den Psalmen zugewendet. Was war da los? Und wieso dann die
Psalmen?
SE: Genau. Also es war so, dass mich im Grunde drei
Tiefschläge so in die Knie gezwungen haben, dass ich eine Auszeit gewährt
bekommen habe, auch von der Kirche gewährt bekommen habe. Ich war 40 Tage in
einer klösterlichen Lebensform, die war therapeutisch, aber auch geistig
begleitet. Und in diesen 40 Tagen hat mich das, was mich in die Knie gezwungen
hat, das waren lange langjährige berufliche Konflikte, die sich entladen
hatten. Es war auch die Traurigkeit, dass am Beginn der Pandemie sehr enge
Freundschaften zerbrochen sind und dass während der Pandemie meine Mutter
verstarb. Und das hat mich in diese Auszeit gebracht. Und in dieser Auszeit gab
es wirklich so etwas wie einen inneren Ruf: „Krall dir doch mal diese Psalmen,
vielleicht helfen sie dir in dieser Zeit“.
Musik 1: 1974 (feat. Andy Sheppard)
Komposition: Espen Eriksen; Interpreten: Espen Eriksen Trio; Album: In
the Mountains (feat. Andy Sheppard), Track 1; Label: Rune Grammofon / Cargo;
LC: 52240.
SE: Also, ich. Ich würde sagen, dass ungefähr 70%
der Psalmen sich mit Kränkungen, Verletzungen, Demütigungen, Angriff durch
Feinde, Gerüchteküche, Unwahrheit und so auseinandersetzen. Also ich sage mal,
70% Sinn sind relativ schmerzgefärbt und die anderen 30%. Da geht
es um die Schönheit der Schöpfung, um den Schöpfer, der gelobt und gepriesen
wird. Da geht es aber auch um die Schönheit der Gebote, der Weisungen, die uns
zum Leben führen. Aber es ist schon so, dass die Identifikationsmöglichkeiten
mit eigenen Lebenssituationen, die einem das Leben schwer erscheinen lassen, in
den Psalmen mit großer Deutlichkeit vorhanden ist.
TR: Jetzt würde mich ja am meisten interessieren, wieso,
wenn das denn so ist, dass 70% die Klage vorbringen. Irgendwie den
Schmerz durchleben lassen, dass es ja wohl auch vor Gott bringen, ihn in Worte
fassen und und und. Was passiert da eigentlich, dass das Schwere leichter wird?
Du hast sie ja nicht gelesen, um noch tiefer in die Schwere oder in die
Depression oder den Schmerz hineinzukommen, sondern das sollte ja irgendwie was
passieren. In der Auseinandersetzung sollte was anders werden.
SE: Genau, „therapeuein“, also das Therapeutische, heißt,
da dient einem etwas. Es gibt ja welche, die diesen Begriff „Krise als Chance“
verwenden. Ich finde, er kann sehr zynisch sein, aber in dem Sinne, glaube ich,
steckt dahinter auch die Lebenserfahrung. Es kann aus Bösem, es kann aus
Schwere, es kann aus Not, es kann aus Schmerz am Ende auch was entstehen, was
zum Guten führt. Und das würde ich sagen, ist die Haupterfahrung, die ich auch
mit diesem Projekt für mich selbst gemacht habe. Und das hat wirklich
therapeutische Kraft, also therapeutisch im Sinne: Es dient zur Heilung, es
dient zum Guten. Und diese Psalmen haben schon die Kraft, praktisch in dem
Durcharbeiten des Schmerzes, aber auch in der Art, sie zu übertragen in die
eigene Sprache, in die eigene Existenz, dass sie einen eben nicht ins Bodenlose
fallen lassen, sondern dass allein schon das Gefühl, ich werde in diesen Gebeten
selbst verstanden, einem Boden unter den Füßen gibt. Und dieses Durchkauen, das
ist ja wirklich dieses Redundante, dieses Wiederholende hat ja in sich auch
schon therapeutische Funktion, so wie andere ihr Mantra beten und in der
Wiederholung merken, dadurch wird die Seele ruhiger und kommt sie irgendwie in
tiefere Tiefen. So ist das auch mit diesem doch sehr oft dann Lesen,
Bearbeiten, Durchkauen dieser Psalmen geschehen.
TR: Du schreibst im Vorwort Ich fühlte mich gut
verstanden.
SE: Genau. Also dieses verstanden im Sinne von Ich hatte
wieder Boden. Man stand besser, man stand fester in dem und das ist ja oft das
Geheimnis auch von Literatur, dass da, wo ich was lese und mich verstanden
fühle in meiner Lebenslage, in meiner Notlage, fühle ich mich nicht mehr so
allein. Und das hat natürlich was Tröstliches, was Erbauendes im wahrsten Sinne
des Wortes.
Musik 2: Olu
Komposition: Nils Landgren; Interprten:
Nils Landgren & Jan Lundgren; Album: Kristallen, Track 10; Label:
ACT-Music; LC: 07644.
TR: Was erwartest oder
erhoffst du dir davon? Wenn jetzt jemand
diese Psalmen-Übertragung liest, was kann da passieren?
SE: Also es ist schon etwas in mir, was mich beseelt, wo
ich sag, da ist ne Mission, dass ich an die Grundbotschaft, die biblische
Botschaft glaube. Es ist gut, dass du da bist, du bist gewollt, du bist
geliebt, du wirst gebraucht und das auch anderen zuzusprechen. Also ich kann
mich schlecht selbst segnen. Ja, ich kann mich auch begrenzt selbst lieben, das
ist wichtig. Aber geliebt werden ist noch mal was anderes. Und dieser Zuspruch,
der in dieser biblischen Botschaft, in den Psalmen, aber auch in den anderen
Texten steht, dass Menschen, wie soll ich sagen, zur Verfügung zu stellen. Und
auch so ein Psalm-Gebet kann etwas sein, was Menschen, indem sie sich
verstanden fühlen, aber auch einen ganz tiefen Zuspruch zusprechen. Es ist gut,
dass ich da bin und ich darf so sein, wie ich bin.
TR: Nun gibt es ja in der Arbeit als Gemeindepfarrer gibt
es ja immer wieder Begegnungen, die sehr persönlich, fast intim sind, wenn man
als Seelsorger einfach mit den Nöten anderer konfrontiert ist. Jemand liegt im
Sterben, jemand ist gestorben. Die engsten Angehörigen sind sehr, sehr traurig.
Ein Kind soll getauft werden, und die Eltern blicken mit Sorge in die Zukunft,
weil sie zwar für vieles sorgen können, aber nicht für alles, und suchen
deshalb noch mal einen…, möchten es unter den Schutz Gottes stellen und und
und. Also gibt es bestimmte Psalmen, die in diesen seelsorgerlichen Begegnungen
sich bewährt haben. Und wie spielen Sie da eine Rolle in deiner Arbeit?
SE: Ich finde es eine schöne Frage, weil sie eigentlich
für mich zwei Dinge kann man daran für mich deutlich machen. Das eine ist, dass
sich in diesen echten Krisensituationen, die du beschrieben hast, oder bei
Fragen von Beerdigungen würde ich auch in meiner pastoralen Praxis zum Original
greifen, bei Beerdigungen. Psalm 121: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen.
Woher kommt mir Hilfe?“ Oder 23: „Der Herr ist mein Hirte.“ Ich bete das auch
im Regelfall mit der Gemeinde aus dem Gesangbuch heraus. Ich habe hohen Respekt
vor dem Klang, vor dem Sound des Vertrauten. Auch gerade bei den Psalmen. Es
gibt nicht mehr viele Psalmen, die den Menschen vertraut sind. Es ist eher
wirklich im Sinn der Seelsorge, dass ich glaube, dass es neben diesen doch sehr
massiven Situationen, wo es um Leben und Tod gibt, auch noch was dazwischen
gibt. Und dass in diesen anderen Grenzerfahrungen, die die Seele macht, die das
Herz macht, die der Mensch macht. Da würde aber auch, glaube ich, wieder das
greifen, was sich mit dem verstanden fühlen vorhin gesagt habe. Also da ist es
auch mal gut, was Frisches, was Neues sprachlich auch zu wagen, was zwar
aufsetzt auf was Altem, aber eben da eine Übertragung stattfindet. Und das
erlebe ich in manchen Reaktionen auf diese Blaulichtgebete eben, dass Menschen
in ihrer Krise da eher ja auch zufällig stöbern, blättern und sagen: „Das hat
mich aber jetzt richtig erwischt. Das hat mich angesprochen“. Das ist auch
unkalkulierbar und Gott sei Dank auch unverfügbar.
TR: Jetzt hast du gerade gesagt, es gibt erste Resonanzen.
Leute sagen Ja, das hat mich erwischt. Hat dich in dem Prozess der Übertragung
hat es dich da auch ab und zu mal erwischt. Wie war das für dich?
SE: Das ist schwer zu beschreiben. Der ganze Prozess war
ja ein „erwischt werden“. Also diese Situation, man ist da in einem
Ausnahmezustand, in einer Ausnahmesituation, in so einem klösterlichen,
abgeschiedenen, strukturierten Leben für 40 Tage. Und erwischt hat einen die
eigene Lebenssituation, das, was einem da geschah und geschehen ist. Aber es
hat mich auch erwischt, dass ich gemerkt habe, wie ja diese Resonanz wie
biblisches Wort und eigenes Wort, suchen und finden…, also es sind Prozesse des
Schreibens und des Übertragens, die nicht rein aktiv, nicht rein bewusst
stattfanden, sondern wo, eben weil es mich erwischt hat, weil mich diese Worte
auch angerührt haben, aber auch eigene Worte losgetreten haben, war dieser
ganze Prozess dieses und das war wirklich ein Jahr lang fast täglich, oft auch
nächtlich, immer wieder rein und immer wieder sich dieser Übertragungsarbeit
stellen. Und mich hat, wenn man so will, dann dieses Projekt erwischt. Wirklich
auch mal 150 Psalmen, also alles, was diese Schatzkammer hergibt, sich diesem
dicken Brett anzunehmen und immer wieder zu merken es ist spannend, es ist
toll, es macht Freude aus, das Schwere wird leichter.
Musik 3: Tears Transforming
Komposition: Tord Gustavsen; Interpreten: Tord Gustavsen Trio; Album:
The Ground; Track 1; Label: ECM Records; LC: 02516.
TR (Overvoice): Du hat von eigenen Krisen berichtet, die du selbst
durchlebt hast. Wir haben uns klar gemacht, wie in den Umbrüchen des Lebens.
Geburt, Tod, Abschied. Die Menschen dort, die die Sprachen der Psalmen
gebrauchen können. Jetzt gibt es ja auch noch ziemlich weit am Anfang den Psalm
vier, den hast du überschrieben mit Ruhig schlafen. Und es fängt an mit „Mein
Gott, all meine Nöte lege ich dir in deine Ohren.“ Also das scheint so einer zu
sein, der auch in deine Krisenzeit und in die Krisen anderer Menschen hineinspricht.
Sprecherin (overvoice):
Mein Gott, all meine Nöte
lege ich dir
in deine Ohren. Sie halten
mich schlaflos.
Nur du kannst mir Recht
verschaffen.
Nur du weißt mich zu
trösten in meinen Ängsten.
Meine es gut mit mir.
Nimm dich meiner Sorgen
an.
Wie lange dürfen die
anderen
noch so auf mir
herumtrampeln?
Sie lieben nur sich und
ihre Lebenslügen.
Wann erkennen sie, auf
wessen Seite du stehst?
(…) Gott, lass leuchten
über alle, die dich lieben,
das Licht deiner
Gegenwart.
Du berührst mein Herz.
(…) Ich liege und schlafe
wohl,
bin ganz von deinem
Frieden umhüllt.
Allein du, mein
himmlischer Vater, hilfst,
damit ich auf Erden sicher
wohne
und ruhig schlafe. (1)
SE: Also es gibt ja Philosophen, die davon sprechen. Wir
leben in einer Müdigkeitsgesellschaft. Es gibt Soziologen, die sagen, wir leben
in so beschleunigten Zuständen, dass wir nicht nur Burnout erleben, sondern
dass wir schlaflos werden. Augustin sagt „Mein Herz ist unruhig, bis es Ruhe
findet in Gott oder Gott in dir“. Ich glaube, das ist ein ganz zentraler
Seismograf eben für ein Leben, was nicht gelingt, was nicht mit seinen Wurzeln
verbunden ist. Und deswegen die Bitte um ruhigen Schlaf ist ja was viel
Tieferes als nur irgendwie: „Ich schmeiß mit zwei Schlaftabletten ein und am
nächsten Morgen kann ich sagen ich hab acht Stunden gepennt“, sondern es ist
wirklich das Thema zur Ruhe kommen. Und deswegen taucht auch in diesem Psalm
dann gegen Ende dieses Bild auf. Ich liege und schlafe wohl, bin ganz von
deinem Frieden umhüllt. Das ist doch eine ganz tiefe Sehnsucht des Menschen.
Und ja, das ist, das ist ein Psalm, der sehr gut ausdrückt, das ist alles nicht
so weit weg. Die sind vor 3000 Jahren, vor zweieinhalbtausend Jahren
geschrieben. Aber das, was den Menschen zum Menschen macht und seine Bedürftigkeit,
seine Sehnsucht, aber auch seine Verwundbarkeit und Endlichkeit kommt in
solchen Psalmen wunderbar zum Ausdruck. Und wenn man das auch noch in unsere
Problemlage überträgt, spricht es einen vielleicht doch noch mal mehr und näher
an.
TR: Ja, ja und Psalm elf geht ein bisschen in ähnliche
Richtung, wenn wir gleich in den ersten Psalmen uns aufhalten bei Dir überschrieben
mit „Langstrecke“: Du bist mein Boden unter den Füßen, egal, was andere von mir
denken und halten.
Sprecherin:
Du, Erhabener, wohnst an
heiligen Orten,
Fernab unserer Nöte ruhst
du im Himmel.
Weil du mich ansiehst,
fühle ich mich gesehen.
Weil die Welt unter deinen
Blicken zu bestehen hat,
fühle ich mich in den
Untiefen des Alltags nicht allein.
Du, Gott, hast fest im
Blick,
die deinen Weisungen
folgen.
Hochmütige, Gottesleugner
und Gewalttätige
weist du in Schranken.
Du lässt deine Sonne
aufgehen
über Gerechte und
Ungerechte.
(…) Unumstößlich bist du,
Gott, ein Gerechter, der
sein Recht
auf der Langstrecke
durchsetzt
und denen hilft,
die aufrecht ihr Leben
führen. (2)
TR: Passt ein bisschen zu dem, was du vorhin gesagt
hast, dass ist die Hauptbotschaft „Du bist geliebt. Es ist gut, dass du da
bist. Du darfst leben, egal, was um dich herum gerade passiert.“ Ist dieser
Psalm, so einer, der das auch zum Ausdruck bringt, dass sozusagen auf der auf
lange Sicht, auf der langen Strecke ist, ist Gott doch immer noch da und der
lässt mich auf keinen Fall fallen?
SE: Also ich glaube, das Problem von vielen von uns ist,
dass wir immer im Kopf haben „Was denken wohl die anderen über mich?“ Und das
kann einen verrückt machen und kirre machen. Aber sich zu fragen Mensch denkt
vielleicht Gott von mir, was denkt der Schöpfer des Lebens von mir? Und so dieses
„Du bist mein Boden unter den Füßen“. Da ist jemand. Ein Theologe, Paul Tillich
hat das mal gesagt, dass ist das, was mein letzter Halt ist. Da ist wirklich
ein Urvertrauen, ein tiefes Grundgefühl: Ich hab Boden unter den Füßen, du
Gott, bist mein Boden unter den Füßen. Auch wenn andere mich nicht verstehen,
wenn ich mich manchmal selbst nicht verstehe, egal, was andere von mir denken,
du denkst gut von mir. In einem Psalmwort heißt es Ich danke dir, Gott, dass
ich so wunderbar geschaffen bin. Darum geht’s. Zuspruch. Da sind wir wieder.
Musik 4: Country
Komposition: Keith Jarrett; Interprten:
Nils Landgren & Jan Lundgren; Album: Kristallen, Track 3; Label: ACT-Music;
LC: 07644
SE (overvoice): Jede Stimme, die Gott lobt, zählt. Niemand muss
perfekt sein. Du zählst, wie du bist. Du wirst bei Gott Gehör finden.
TR: Dass Sie diese Erfahrung machen, das wünschen Ihnen
heute Morgen.
SE: Siegfried Eckhard aus Bonn und.
TR: Titus Reinmuth aus Wassenberg.
Musik 4: Country
(Fortsetzung)
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth
Quellen:
(1) Siegfried Eckert:
Blaulichtgebete. Die Psalmen übertragen vom Damals ins Heute, München 2022, 1
(2) Ebd., 30.
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