Autor: Bis zum Ziel sind es von meinem Hotel mit dem Taxi nur
ein paar Minuten, doch an diesem Morgen entscheide ich mich wieder einmal für
einen Spaziergang. Ich überquere den Fluss und biege am Kreisverkehr links in
die Hauptstraße ab, bis ich einen großen Wohnblock erreiche. Es ist einiges los:
Menschen machen sich auf den Weg zur Arbeit oder zum Einkauf,eine junge
Frau schiebt einen Kinderwagen und grüßt fröhlich eine ältere Dame, die ihr auf
dem Fahrrad entgegenkommt. Der Kebab-Imbiss wirbt für günstige Mittagsangebote
für Schüler, ich lasse ihn hinter mir und überquere ich den Spielplatz. Kinder
toben an den Spielgeräten, die frischen Temperaturen des Morgens scheinen sie
nicht zu stören. Am Ende der Straße geht es nach links weiter, und spätestens als
ich den großen Busparkplatz sehe, weiß ich, dass ich gleich das Ziel erreicht
habe. Unentwegt steigen große Gruppen aus den Bussen und steuern auf den
Eingang der Gedenkstätte zu. Ein paar Jugendliche posieren für ein Selfie. Wer
nicht direkt zum Museum geht, lässt sich von den großen Reklametafeln zum Kiosk
oder einem der Restaurants locken.
Musik
1: Szól A Kakas Már; Interpret:
Budapest Bár; Album: Klezmer; Label: Bár Produkció; LC: unbekannt
Autor: Die Kleinstadt mit dem gut besuchten Kebab-Imbiss,
dem Spielplatz mit den herumtobenden Kindern und der Gedenkstätte mit dem
großen Busparkplatz trägt den Namen O?wi?cim und liegt in Südpolen, etwa 60
Kilometer von Krakau entfernt. Unter ihrem deutschen Namen Auschwitz erlangte
sie traurige Berühmtheit. Vorgestern jährte sich der Tag der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz zum 78. Mal.
Ich bin wissenschaftlicher
Mitarbeiter im Fach Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie
der Universität Paderborn. Ich kenne den Weg, den ich eingangs beschrieben
habe, mittlerweile gut. Einmal im Jahr fahre ich mit meiner Kollegin Stephanie
Lerke und unseren Studierenden nach O?wi?cim. Die Nachfrage ist jedes Mal groß.
Die Studierenden wollen begreifen, was hier geschehen ist. Erinnerungslernen
erfordert das authentische Erleben am historischen Ort. Doch wer zum ersten Mal
nach Auschwitz kommt, ist häufig überwältigt, fühlt sich machtlos. Ich war
erstmals im Jahr 2014 dort, im Rahmen eines Projektes für Nachwuchsjournalistinnen
und -journalisten. Veranstaltet wurde es vom Maximilian-Kolbe-Werk, einer
Hilfsorganisation, die die Überlebenden der NS-Konzentrationslager und Ghettos
unterstützt und sich für die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem
polnischen Volk einsetzt. Sie ist benannt nach einem Franziskaner-Minorit, der
in Auschwitz in einem Akt der Nächstenliebe anstelle eines Familienvaters in
den Tod ging. Bei der Begrüßung am ersten Abend im großen Saal im Zentrum für
Dialog und Gebet, unweit des ehemaligen Stammlagers Auschwitz I, stellen sich
auch mehrere Zeitzeugen vor. Krystyna
Budnicka ist eine von ihnen.
Sprecherin:
1932 wurde ich in Warschau in eine
traditionelle religiöse Familie geboren, in der alle jüdischen Gesetze befolgt
wurden. Ich war das jüngste von acht Kindern: Ich hatte sechs Brüder und eine
Schwester. Mein Vater war Tischler; seine Werkstatt war im Keller. Auch die
älteren Brüder arbeiteten dort mit. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit,
denn ich war ein geliebtes Kind und wuchs in einem warmen Miteinander auf. Mit
drei Jahren bin ich Tante geworden. Mein ältester Bruder hatte geheiratet und
zwei Kinder bekommen. Als ich sieben Jahre alt war, brach der Krieg aus.
Musik 2: Riverendings (with Adam
Baldych & Dieter Ilg), Interpret: Nils Landgren; Album: 3 Generations;
Label: Label: ACT Music + Vision GmbH
& Ko KG; LC: 07644
Autor: Krystyna Budnicka hieß
nicht immer so. Geboren wird sie als Hena Kuczer. Von einem Tag auf den anderen
befindet sich das Haus ihrer Familie im jüdischen Ghetto. Während ihr ältester
Bruder direkt mit seiner Frau und ihren beiden kleinen Kindern nach Treblinka
gebracht wird und dort stirbt, gelingt es dem Rest der Familie zunächst, sich in
einem Bunker unterhalb ihres Kellers zu verstecken. Nach dem Aufstand im
Warschauer Ghetto am 19. April 1943, an dem auch ihre Brüder beteiligt sind,
müssen sie jedoch in die Kanalisation fliehen.
Sprecherin:
Die Deutschen reagierten, indem
sie Brände im Ghetto legten. Die Häuser brannten, Menschen flüchteten in
verschiedene Richtungen. Die Wände unseres Verstecks waren so heiß wie ein
Backofen. Der Keller, in dem sich die Vorräte befanden, brach zusammen, der Bunker
drohte einzustürzen. Wir mussten in den unterirdischen Kanal flüchten. Wir
saßen dort, unter unseren Füßen liefen Ratten, vor uns schwammen
Menschenleichen vorbei. Die Deutschen wussten schnell, dass der Kanal ein
Fluchtweg war; sie warteten an den Gullideckeln, um die Menschen zu erschießen
– die dann zurück in den Kanal fielen. Außerdem begannen sie, Gasgranaten in
den Kanal zu werfen. Der Überlebenskampf hatte begonnen.
Autor: Weil Henas 13-jähriger
Bruder einen Zettel durch einen Kanaldeckel steckt, der zufällig unbewacht ist,
werden sie beide sowie ihre Schwägerin gerettet. Im Kanal bleiben jedoch ihre
Schwester und ihre Eltern zurück. Die Helfer versuchen noch, auch sie zu holen,
aber können sie nicht mehr retten. Sie sterben den Hungertod unter der
Kanaldecke. Am Ende ist Hena neben ihrer Schwägerin die Einzige aus ihrer
Familie, die den Nationalsozialismus überlebt. Sie kann sich bei der Familie
Budnicki verstecken und wird im Oktober 1944 von Nonnen unter dem Namen
Krystyna Budnicka in ein christliches Waisenhaus aufgenommen.
Sprecherin:
Ich konnte aus der Hölle fliehen
und bin unter Menschen gelandet, die mich mit Liebe versorgt haben. Ich habe das
Christentum als Teil von mir angenommen. Ich bin zugleich auch Jüdin, aber das
ist kein Widerspruch. Denn wenn du glaubst, dass es ein Leben nach dem Tod
gibt, hast du eine andere Sicht der Dinge. Wir glauben alle an den gleichen
Gott. Es gibt nur einen Gott. Und ich bin mir sicher, er schaut mich liebevoll
an. Ich habe nicht geheiratet und keine Kinder, aber viele Freunde. Lange habe
ich gedacht, ich sei allein auf der Welt. Meine Erinnerungen habe ich gelassen
und versucht zu verdrängen. Doch dann schloss ich mich dem Verein „Kinder des
Holocaust“ an. Wenn ich über meine Familie spreche, errichte ich ihnen ein
Denkmal. Ich sehe sie dann, meine Brüder, meine Eltern und die Schwester, die
bei ihnen blieb. Ich erhalte sie dann am Leben. Das ist meine Mission. Bald
werden die Zeugen nicht mehr sprechen können, deshalb möchte ich Spuren
hinterlassen.
Musik
2: Riverendings
Autor: Zurück zu meiner ersten
Reise nach O?wi?cim. Am nächsten Morgen führt Jacek Zieliniewicz durch das
Konzentrationslager. Zunächst durch das benachbarte Stammlager Auschwitz I mit
dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“, und dann, zwei Kilometer entfernt,
durch das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es ist ein eisiger Morgen, der
Wind peitscht unaufhaltsam über das große Areal. Obwohl dicht verpackt in
Mantel, Schal und Mütze, spüre ich die Minustemperaturen deutlich. Jacek
Zielieniewicz ist, als ich ihn kennenlerne, 87 Jahre alt. Er hat ein ganzes
Jahr hier verbracht, in einer Häftlingskleidung, die auch im Winter nur aus
dünnen Fetzen besteht. Er wird als Jugendlicher verhaftet und dorthin gebracht.
Im Lager verliert er seinen besten Freund. Bei Ausbesserungsarbeiten auf den
Dächern sieht er täglich Kinder auf ihrem letzten Weg in die Gaskammern gehen.
Sprecher:
Um das Lager zu überstehen,
brauchte ich Glück, Glaube und Hoffnung. Nach all meinen Erlebnissen glaube
ich, dass Gott nicht so grausam sein kann. Der Mensch hat das Böse getan.
Autor: Jacek Zieliniewicz ist damals
17 Jahre alt. Er überlebt auch, weil er jung und kräftig ist und bald bekannt
ist als, wie er es nennt, „Mädchen für alles“. Er macht seine Arbeit gut, und
so gehört er zu den wenigen Häftlingen, die mit kleinen Privilegien
ausgestattet werden. Er darf Briefe an seine Eltern schreiben, am Anfang
regelmäßig, danach immer seltener. Einen solchen Brief an seine Eltern hat er
später wieder an sich genommen und sorgfältig laminiert. Er zeigt ihn mir bei
unserem Gespräch im Saal des Zentrums für Dialog und Gebet in O?wi?cim.
Sprecher:
„Auschwitz, den 20. Februar 44. Liebe Eltern und
Tante! Euren Brief vom 2. Februar habe ich mit großer Freude gelesen. Ich freue
mich sehr, dass Ihr um mich schon beruhigt seid. Ich bin gesund und fühle mich
wohl. Wenn manchmal ein Schreiben von mir verspätet ankommt, seid deswegen
unbesorgt. Ich erhielt von Euch das letzte Paket #21. Ich danke dir liebste
Mutter für das Geburtstagspaket. Das Gebäck hat mir außerordentlich geschmeckt.
[…] Ich danke dem lieben Vater für seine Zuschrift und bitte gleichzeitig er
möchte in jedem Brief einige Zeilen mir schreiben. […] Ich grüße und küsse Euch
herzlich, Euer Euch liebender Sohn Jacek.“
Autor: Die Briefe, die natürlich
in deutscher Sprache verfasst werden mussten, wurden geprüft, bevor sie
herausgingen, gleiches galt für Posteingänge. Die Nationalsozialisten wünschten
rund um die Massenmorde in Osteuropa keine Öffentlichkeit – der Historiker
Einhart Lorenz schreibt, es existierten offizielle Sprachregulierungen und es
wurden Euphemismen benutzt, um zu verbergen, was tatsächlich vor sich ging.(1)
Das wird auch an diesem Beispiel deutlich. „Ich bin gesund und fühle mich wohl…
Seid unbesorgt!“ Das gehörte zu den Floskeln, die Jacek schreiben musste. „Das
Gebäck hat ihm außerordentlich geschmeckt?“ Es ist fraglich, ob er es überhaupt
gegessen hat. Dieses Privileg, Pakete empfangen zu dürfen, ist grundsätzlich
bekannt, aber es war noch seltener als die Briefe. Selbstverständlich kamen sie
nur geöffnet bei ihm an – und meist auch unvollständig. Jacek erzählte mir
auch, was er mit dem Inhalt der Pakete gemacht hat: Er bestach die Aufseher
damit, dafür schlugen sie ihn nicht.
Musik 3: Seattle;
Interpret: Avishai Cohen; Album: Gently Disturbed; Label: Naive (Soulfood); LC:
00540
Autor: Jacek Zieliniewicz sprach mit mir auf
Deutsch, obwohl es die Sprache der Täter war. Er starb 2018 im Alter von 92
Jahren. Bis kurz vor seinem Tod kam er regelmäßig nach Deutschland, um von
seinen Erfahrungen zu berichten.
Sprecher:
Im Deutschen gibt es drei schöne
und wichtige Wörter, die mit dem "F" beginnen: Freiheit, Friede und
Freundschaft. Ich habe niemals gedacht, dass ich in Deutschland Freunde finden
würde. Ich habe meinen Hass überwunden, und das ist mein Sieg. Ihr tragt keine
Schuld an der Vergangenheit. Ihr seid nicht dafür verantwortlich. Ihr seid
verantwortlich für die Zukunft.
Autor: Als ich im vergangenen
Frühjahr wieder zurück nach O?wi?cim komme und mit meinen Studierenden auch das
Zentrum für Dialog und Gebet besuche, muss ich wieder an Jacek
Zieliniewicz denken. Der feste Glaube dieses Mannes, den diese
Leiderfahrungen nicht erschüttert haben, und seine Bereitschaft zur Versöhnung
beeindrucken mich nachhaltig. Auf dem Weg zurück ins
Hotel entschließe ich mich erneut für den Fußweg. Nachdem ich um die Ecke gebogen
bin, über den Spielplatz, vorbei an dem Kebab-Imbiss, wird es ruhiger. Die
KZ-Gedenkstätte ist in O?wi?cim einer der größten Arbeitgeber. Zugleich kämpft
die Stadt um Normalität. In der polnischen Sprache unterscheiden die Menschen
zwischen O?wi?cim und Auschwitz. Das hilft den Einwohnern, dass die hässlichen
Narben ein wenig verheilen können, die die Deutschen in ihrer Stadt
hinterlassen haben. In der deutschen Sprache bleibt Auschwitz derweil fest
verankert – als mahnendes Gedenken eines „Nie wieder“, als Aufruf an alle
folgenden Generationen, nicht aus Schuld, sondern aus Verantwortung.
Musik 1: Szól A Kakas Már
Autor: In diesen
Tagen wird mir wieder klar: Unsere Generation ist die letzte, die die
Möglichkeit hat, mit Überlebenden des Holocaust zu sprechen – ein großes
Privileg und zugleich eine ebenso große Verantwortung, liegt es doch damit an
uns, dieses Gedächtnis zu bewahren. Am Ort des Geschehens gewinnt die
Geschichte eine besondere Authentizität. Wenn ich vor Ort bin, habe ich keinen
Abstand. Die Rede von Auschwitz betrifft mich persönlich und konkret. Wenn ich
über das Erlebte nachdenke, bedeutet das nicht nur ein persönliches Innehalten
und Gedenken, es nimmt auch Einfluss auf das eigene Denken, Handeln und
Glauben.
Wann immer ich nach Auschwitz oder in andere ehemalige
Konzentrationslager fahre, spüre ich: Der Schrecken bleibt, das Entsetzen
verliert sich nicht mit der Zeit. Wie ist vor diesem Hintergrund eine Rede von
Gott möglich? Auch hier haben mich die Begegnungen mit den Überlebenden nicht
nur immer wieder erschüttert und bewegt, sondern auch verblüfft und
nachdenklich gemacht. Einem jungen Mann wird die Jugend genommen, hilflos muss
er täglich kleinen Kindern auf ihrem Weg in die Gaskammern zusehen, und doch
hält er seinen Glauben aufrecht und sagt: Der Mensch hat das Böse getan, nicht
Gott. Ein kleines jüdisches Mädchen verliert im Warschauer Getto fast seine ganze
Familie, weiß sich aber trotz allem von Gott geliebt. In beiden Fällen werden
die Opfer zu Siegern. Die gottlosen Taten rufen bei ihnen keine Gottlosigkeit
hervor, und auf den nationalsozialistischen Hass reagieren beide nicht mit dem
Wunsch nach Vergeltung, sondern können den Hass überwinden.
An die Erlebnisse von Jacek Ziliniewicz, Krystyna Budnicka und vielen
anderen zu erinnern ist für mich heute notwendiger denn je. Seit Jahren beobachte
ich mit Sorge, wie parallel zum Wiedererstarken des rechten politischen
Spektrums die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland steigt. Ich
bin schockiert über die Verschwörungserzählungen, die sich im Zuge der
Coronapandemie verbreitet haben: Die allermeisten sind im Kern antisemitisch
und greifen teilweise auf jahrhundertealte antijüdische Mythen zurück.
Lehrerinnen und Lehrer müssen mit der Herausforderung umgehen, dass auf
deutschen Schulhöfen „Du Jude“ eine der populärsten Beleidigungen geworden ist.
Wir alle, als Gesamtgesellschaft, sind daher gefragt. Die Geschichte, die im
Holocaust ihren schrecklichen Höhepunkt erreicht hat, darf sich nicht
wiederholen. Und die Erlebnisse der Überlebenden, sie dürfen nicht in
Vergessenheit geraten, auch wenn sie selbst nicht mehr sprechen können.
Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Ihr Jan Christian Pinsch aus
Paderborn, Prädikant in der Lippischen Landeskirche.
Musik 4: Noah’s Ark; Interpreten: Julia Karosi & Tobias Meinhart; Album: Hidden
Roots; Label: Dot Time Records; LC 90205
Quellen:
(1) Einhart Lorenz, Der Mord
an sechs Millionen Juden, in: Trond Berg Eriksen, Hakon Harket, Einhart Lorenz
(Hg.), Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur
Gegenwart, Göttingen 2019, 463-489, 482.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth