78 Jahre nach Auschwitz

Das geistliche Wort | 29.01.2023 | 00:00 Uhr

Autor: Bis zum Ziel sind es von meinem Hotel mit dem Taxi nur

ein paar Minuten, doch an diesem Morgen entscheide ich mich wieder einmal für

einen Spaziergang. Ich überquere den Fluss und biege am Kreisverkehr links in

die Hauptstraße ab, bis ich einen großen Wohnblock erreiche. Es ist einiges los:

Menschen machen sich auf den Weg zur Arbeit oder zum Einkauf,eine junge

Frau schiebt einen Kinderwagen und grüßt fröhlich eine ältere Dame, die ihr auf

dem Fahrrad entgegenkommt. Der Kebab-Imbiss wirbt für günstige Mittagsangebote

für Schüler, ich lasse ihn hinter mir und überquere ich den Spielplatz. Kinder

toben an den Spielgeräten, die frischen Temperaturen des Morgens scheinen sie

nicht zu stören. Am Ende der Straße geht es nach links weiter, und spätestens als

ich den großen Busparkplatz sehe, weiß ich, dass ich gleich das Ziel erreicht

habe. Unentwegt steigen große Gruppen aus den Bussen und steuern auf den

Eingang der Gedenkstätte zu. Ein paar Jugendliche posieren für ein Selfie. Wer

nicht direkt zum Museum geht, lässt sich von den großen Reklametafeln zum Kiosk

oder einem der Restaurants locken.

Musik

1: Szól A Kakas Már; Interpret:

Budapest Bár; Album: Klezmer; Label: Bár Produkció; LC: unbekannt

Autor: Die Kleinstadt mit dem gut besuchten Kebab-Imbiss,

dem Spielplatz mit den herumtobenden Kindern und der Gedenkstätte mit dem

großen Busparkplatz trägt den Namen O?wi?cim und liegt in Südpolen, etwa 60

Kilometer von Krakau entfernt. Unter ihrem deutschen Namen Auschwitz erlangte

sie traurige Berühmtheit. Vorgestern jährte sich der Tag der Befreiung des

Konzentrationslagers Auschwitz zum 78. Mal.

Ich bin wissenschaftlicher

Mitarbeiter im Fach Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie

der Universität Paderborn. Ich kenne den Weg, den ich eingangs beschrieben

habe, mittlerweile gut. Einmal im Jahr fahre ich mit meiner Kollegin Stephanie

Lerke und unseren Studierenden nach O?wi?cim. Die Nachfrage ist jedes Mal groß.

Die Studierenden wollen begreifen, was hier geschehen ist. Erinnerungslernen

erfordert das authentische Erleben am historischen Ort. Doch wer zum ersten Mal

nach Auschwitz kommt, ist häufig überwältigt, fühlt sich machtlos. Ich war

erstmals im Jahr 2014 dort, im Rahmen eines Projektes für Nachwuchsjournalistinnen

und -journalisten. Veranstaltet wurde es vom Maximilian-Kolbe-Werk, einer

Hilfsorganisation, die die Überlebenden der NS-Konzentrationslager und Ghettos

unterstützt und sich für die Versöhnung zwischen dem deutschen und dem

polnischen Volk einsetzt. Sie ist benannt nach einem Franziskaner-Minorit, der

in Auschwitz in einem Akt der Nächstenliebe anstelle eines Familienvaters in

den Tod ging. Bei der Begrüßung am ersten Abend im großen Saal im Zentrum für

Dialog und Gebet, unweit des ehemaligen Stammlagers Auschwitz I, stellen sich

auch mehrere Zeitzeugen vor. Krystyna

Budnicka ist eine von ihnen.

Sprecherin:

1932 wurde ich in Warschau in eine

traditionelle religiöse Familie geboren, in der alle jüdischen Gesetze befolgt

wurden. Ich war das jüngste von acht Kindern: Ich hatte sechs Brüder und eine

Schwester. Mein Vater war Tischler; seine Werkstatt war im Keller. Auch die

älteren Brüder arbeiteten dort mit. Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit,

denn ich war ein geliebtes Kind und wuchs in einem warmen Miteinander auf. Mit

drei Jahren bin ich Tante geworden. Mein ältester Bruder hatte geheiratet und

zwei Kinder bekommen. Als ich sieben Jahre alt war, brach der Krieg aus.

Musik 2: Riverendings (with Adam

Baldych & Dieter Ilg), Interpret: Nils Landgren; Album: 3 Generations;

Label: Label: ACT Music + Vision GmbH

& Ko KG; LC: 07644

Autor: Krystyna Budnicka hieß

nicht immer so. Geboren wird sie als Hena Kuczer. Von einem Tag auf den anderen

befindet sich das Haus ihrer Familie im jüdischen Ghetto. Während ihr ältester

Bruder direkt mit seiner Frau und ihren beiden kleinen Kindern nach Treblinka

gebracht wird und dort stirbt, gelingt es dem Rest der Familie zunächst, sich in

einem Bunker unterhalb ihres Kellers zu verstecken. Nach dem Aufstand im

Warschauer Ghetto am 19. April 1943, an dem auch ihre Brüder beteiligt sind,

müssen sie jedoch in die Kanalisation fliehen.

Sprecherin:

Die Deutschen reagierten, indem

sie Brände im Ghetto legten. Die Häuser brannten, Menschen flüchteten in

verschiedene Richtungen. Die Wände unseres Verstecks waren so heiß wie ein

Backofen. Der Keller, in dem sich die Vorräte befanden, brach zusammen, der Bunker

drohte einzustürzen. Wir mussten in den unterirdischen Kanal flüchten. Wir

saßen dort, unter unseren Füßen liefen Ratten, vor uns schwammen

Menschenleichen vorbei. Die Deutschen wussten schnell, dass der Kanal ein

Fluchtweg war; sie warteten an den Gullideckeln, um die Menschen zu erschießen

– die dann zurück in den Kanal fielen. Außerdem begannen sie, Gasgranaten in

den Kanal zu werfen. Der Überlebenskampf hatte begonnen.

Autor: Weil Henas 13-jähriger

Bruder einen Zettel durch einen Kanaldeckel steckt, der zufällig unbewacht ist,

werden sie beide sowie ihre Schwägerin gerettet. Im Kanal bleiben jedoch ihre

Schwester und ihre Eltern zurück. Die Helfer versuchen noch, auch sie zu holen,

aber können sie nicht mehr retten. Sie sterben den Hungertod unter der

Kanaldecke. Am Ende ist Hena neben ihrer Schwägerin die Einzige aus ihrer

Familie, die den Nationalsozialismus überlebt. Sie kann sich bei der Familie

Budnicki verstecken und wird im Oktober 1944 von Nonnen unter dem Namen

Krystyna Budnicka in ein christliches Waisenhaus aufgenommen.

Sprecherin:

Ich konnte aus der Hölle fliehen

und bin unter Menschen gelandet, die mich mit Liebe versorgt haben. Ich habe das

Christentum als Teil von mir angenommen. Ich bin zugleich auch Jüdin, aber das

ist kein Widerspruch. Denn wenn du glaubst, dass es ein Leben nach dem Tod

gibt, hast du eine andere Sicht der Dinge. Wir glauben alle an den gleichen

Gott. Es gibt nur einen Gott. Und ich bin mir sicher, er schaut mich liebevoll

an. Ich habe nicht geheiratet und keine Kinder, aber viele Freunde. Lange habe

ich gedacht, ich sei allein auf der Welt. Meine Erinnerungen habe ich gelassen

und versucht zu verdrängen. Doch dann schloss ich mich dem Verein „Kinder des

Holocaust“ an. Wenn ich über meine Familie spreche, errichte ich ihnen ein

Denkmal. Ich sehe sie dann, meine Brüder, meine Eltern und die Schwester, die

bei ihnen blieb. Ich erhalte sie dann am Leben. Das ist meine Mission. Bald

werden die Zeugen nicht mehr sprechen können, deshalb möchte ich Spuren

hinterlassen.

Musik

2: Riverendings

Autor: Zurück zu meiner ersten

Reise nach O?wi?cim. Am nächsten Morgen führt Jacek Zieliniewicz durch das

Konzentrationslager. Zunächst durch das benachbarte Stammlager Auschwitz I mit

dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“, und dann, zwei Kilometer entfernt,

durch das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es ist ein eisiger Morgen, der

Wind peitscht unaufhaltsam über das große Areal. Obwohl dicht verpackt in

Mantel, Schal und Mütze, spüre ich die Minustemperaturen deutlich. Jacek

Zielieniewicz ist, als ich ihn kennenlerne, 87 Jahre alt. Er hat ein ganzes

Jahr hier verbracht, in einer Häftlingskleidung, die auch im Winter nur aus

dünnen Fetzen besteht. Er wird als Jugendlicher verhaftet und dorthin gebracht.

Im Lager verliert er seinen besten Freund. Bei Ausbesserungsarbeiten auf den

Dächern sieht er täglich Kinder auf ihrem letzten Weg in die Gaskammern gehen.

Sprecher:

Um das Lager zu überstehen,

brauchte ich Glück, Glaube und Hoffnung. Nach all meinen Erlebnissen glaube

ich, dass Gott nicht so grausam sein kann. Der Mensch hat das Böse getan.

Autor: Jacek Zieliniewicz ist damals

17 Jahre alt. Er überlebt auch, weil er jung und kräftig ist und bald bekannt

ist als, wie er es nennt, „Mädchen für alles“. Er macht seine Arbeit gut, und

so gehört er zu den wenigen Häftlingen, die mit kleinen Privilegien

ausgestattet werden. Er darf Briefe an seine Eltern schreiben, am Anfang

regelmäßig, danach immer seltener. Einen solchen Brief an seine Eltern hat er

später wieder an sich genommen und sorgfältig laminiert. Er zeigt ihn mir bei

unserem Gespräch im Saal des Zentrums für Dialog und Gebet in O?wi?cim.

Sprecher:

„Auschwitz, den 20. Februar 44. Liebe Eltern und

Tante! Euren Brief vom 2. Februar habe ich mit großer Freude gelesen. Ich freue

mich sehr, dass Ihr um mich schon beruhigt seid. Ich bin gesund und fühle mich

wohl. Wenn manchmal ein Schreiben von mir verspätet ankommt, seid deswegen

unbesorgt. Ich erhielt von Euch das letzte Paket #21. Ich danke dir liebste

Mutter für das Geburtstagspaket. Das Gebäck hat mir außerordentlich geschmeckt.

[…] Ich danke dem lieben Vater für seine Zuschrift und bitte gleichzeitig er

möchte in jedem Brief einige Zeilen mir schreiben. […] Ich grüße und küsse Euch

herzlich, Euer Euch liebender Sohn Jacek.“

Autor: Die Briefe, die natürlich

in deutscher Sprache verfasst werden mussten, wurden geprüft, bevor sie

herausgingen, gleiches galt für Posteingänge. Die Nationalsozialisten wünschten

rund um die Massenmorde in Osteuropa keine Öffentlichkeit – der Historiker

Einhart Lorenz schreibt, es existierten offizielle Sprachregulierungen und es

wurden Euphemismen benutzt, um zu verbergen, was tatsächlich vor sich ging.(1)

Das wird auch an diesem Beispiel deutlich. „Ich bin gesund und fühle mich wohl…

Seid unbesorgt!“ Das gehörte zu den Floskeln, die Jacek schreiben musste. „Das

Gebäck hat ihm außerordentlich geschmeckt?“ Es ist fraglich, ob er es überhaupt

gegessen hat. Dieses Privileg, Pakete empfangen zu dürfen, ist grundsätzlich

bekannt, aber es war noch seltener als die Briefe. Selbstverständlich kamen sie

nur geöffnet bei ihm an – und meist auch unvollständig. Jacek erzählte mir

auch, was er mit dem Inhalt der Pakete gemacht hat: Er bestach die Aufseher

damit, dafür schlugen sie ihn nicht.

Musik 3: Seattle;

Interpret: Avishai Cohen; Album: Gently Disturbed; Label: Naive (Soulfood); LC:

00540

Autor: Jacek Zieliniewicz sprach mit mir auf

Deutsch, obwohl es die Sprache der Täter war. Er starb 2018 im Alter von 92

Jahren. Bis kurz vor seinem Tod kam er regelmäßig nach Deutschland, um von

seinen Erfahrungen zu berichten.

Sprecher:

Im Deutschen gibt es drei schöne

und wichtige Wörter, die mit dem "F" beginnen: Freiheit, Friede und

Freundschaft. Ich habe niemals gedacht, dass ich in Deutschland Freunde finden

würde. Ich habe meinen Hass überwunden, und das ist mein Sieg. Ihr tragt keine

Schuld an der Vergangenheit. Ihr seid nicht dafür verantwortlich. Ihr seid

verantwortlich für die Zukunft.

Autor: Als ich im vergangenen

Frühjahr wieder zurück nach O?wi?cim komme und mit meinen Studierenden auch das

Zentrum für Dialog und Gebet besuche, muss ich wieder an Jacek

Zieliniewicz denken. Der feste Glaube dieses Mannes, den diese

Leiderfahrungen nicht erschüttert haben, und seine Bereitschaft zur Versöhnung

beeindrucken mich nachhaltig. Auf dem Weg zurück ins

Hotel entschließe ich mich erneut für den Fußweg. Nachdem ich um die Ecke gebogen

bin, über den Spielplatz, vorbei an dem Kebab-Imbiss, wird es ruhiger. Die

KZ-Gedenkstätte ist in O?wi?cim einer der größten Arbeitgeber. Zugleich kämpft

die Stadt um Normalität. In der polnischen Sprache unterscheiden die Menschen

zwischen O?wi?cim und Auschwitz. Das hilft den Einwohnern, dass die hässlichen

Narben ein wenig verheilen können, die die Deutschen in ihrer Stadt

hinterlassen haben. In der deutschen Sprache bleibt Auschwitz derweil fest

verankert – als mahnendes Gedenken eines „Nie wieder“, als Aufruf an alle

folgenden Generationen, nicht aus Schuld, sondern aus Verantwortung.

Musik 1: Szól A Kakas Már

Autor: In diesen

Tagen wird mir wieder klar: Unsere Generation ist die letzte, die die

Möglichkeit hat, mit Überlebenden des Holocaust zu sprechen – ein großes

Privileg und zugleich eine ebenso große Verantwortung, liegt es doch damit an

uns, dieses Gedächtnis zu bewahren. Am Ort des Geschehens gewinnt die

Geschichte eine besondere Authentizität. Wenn ich vor Ort bin, habe ich keinen

Abstand. Die Rede von Auschwitz betrifft mich persönlich und konkret. Wenn ich

über das Erlebte nachdenke, bedeutet das nicht nur ein persönliches Innehalten

und Gedenken, es nimmt auch Einfluss auf das eigene Denken, Handeln und

Glauben.

Wann immer ich nach Auschwitz oder in andere ehemalige

Konzentrationslager fahre, spüre ich: Der Schrecken bleibt, das Entsetzen

verliert sich nicht mit der Zeit. Wie ist vor diesem Hintergrund eine Rede von

Gott möglich? Auch hier haben mich die Begegnungen mit den Überlebenden nicht

nur immer wieder erschüttert und bewegt, sondern auch verblüfft und

nachdenklich gemacht. Einem jungen Mann wird die Jugend genommen, hilflos muss

er täglich kleinen Kindern auf ihrem Weg in die Gaskammern zusehen, und doch

hält er seinen Glauben aufrecht und sagt: Der Mensch hat das Böse getan, nicht

Gott. Ein kleines jüdisches Mädchen verliert im Warschauer Getto fast seine ganze

Familie, weiß sich aber trotz allem von Gott geliebt. In beiden Fällen werden

die Opfer zu Siegern. Die gottlosen Taten rufen bei ihnen keine Gottlosigkeit

hervor, und auf den nationalsozialistischen Hass reagieren beide nicht mit dem

Wunsch nach Vergeltung, sondern können den Hass überwinden.

An die Erlebnisse von Jacek Ziliniewicz, Krystyna Budnicka und vielen

anderen zu erinnern ist für mich heute notwendiger denn je. Seit Jahren beobachte

ich mit Sorge, wie parallel zum Wiedererstarken des rechten politischen

Spektrums die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland steigt. Ich

bin schockiert über die Verschwörungserzählungen, die sich im Zuge der

Coronapandemie verbreitet haben: Die allermeisten sind im Kern antisemitisch

und greifen teilweise auf jahrhundertealte antijüdische Mythen zurück.

Lehrerinnen und Lehrer müssen mit der Herausforderung umgehen, dass auf

deutschen Schulhöfen „Du Jude“ eine der populärsten Beleidigungen geworden ist.

Wir alle, als Gesamtgesellschaft, sind daher gefragt. Die Geschichte, die im

Holocaust ihren schrecklichen Höhepunkt erreicht hat, darf sich nicht

wiederholen. Und die Erlebnisse der Überlebenden, sie dürfen nicht in

Vergessenheit geraten, auch wenn sie selbst nicht mehr sprechen können.

Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen Ihr Jan Christian Pinsch aus

Paderborn, Prädikant in der Lippischen Landeskirche.

Musik 4: Noah’s Ark; Interpreten: Julia Karosi & Tobias Meinhart; Album: Hidden

Roots; Label: Dot Time Records; LC 90205

Quellen:

(1) Einhart Lorenz, Der Mord

an sechs Millionen Juden, in: Trond Berg Eriksen, Hakon Harket, Einhart Lorenz

(Hg.), Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur

Gegenwart, Göttingen 2019, 463-489, 482.

Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth

  • 29.1.2023
  • Jan Christian Pinsch
  • © CCO Pixabay