achtsam

Kirche in WDR3 | 15.01.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Januar 2007. Morgens früh in einer zugigen nasskalten

U-Bahn Station in Washington, D.C.. Plötzlich ertönen wunderschöne

Violinenklänge. Die Chaconne aus Johann Sebastian Bachs „Partita für Violine in

d-Moll“. Eines der großartigsten und schwersten Stücke, die je für Geige

geschrieben wurden. Auch das bekannte „Ave Maria“ von Schubert – und andere

musikalische Meisterwerke. Der Musiker steht einfach in dieser U-Bahn Station.

Ein Mann so um die vierzig mit Baseballkappe.

Nach einer Dreiviertelstunde packt er ein und geht. In

seinem offenen Geigenkasten liegen 32 Dollar. Mehr als tausend Menschen sind

vorbeigelaufen. Sieben davon sind kurz stehen geblieben. Keiner hat

applaudiert. Nur eines wussten die Vorbeilaufenden nicht: Das Ganze ist ein

Experiment der Washington Post. Der Geiger heißt Joshua Bell und ist einer der

besten Violinisten der Welt. Von dem die Fachwelt sagt, „er spielt wie ein

Gott“. Seine von Antonio Stradivari 1713 gebaute Violine, mit der er an der

U-Bahn-Station gespielt hat, ist 3,5 Millionen Dollar wert. Und er spielt das

gleiche Programm wie zwei Tage zuvor in der ausverkauften Symphony Hall in

Boston. Mit Eintrittspreisen von 100 Dollar aufwärts je Platz.

Die eigentlichen Fragen des Experiments lauten: Nehmen

wir das Besondere auch wahr, wenn wir nicht speziell darauf achten? Können wir

Schönheit in unserem alltäglichen Umfeld zu einem unpassenden Zeitpunkt

überhaupt bemerken? Nehmen wir uns die Zeit, sie wert zu schätzen?

Die Antwort: Nein, das tun wir nicht! Mehr als tausend

Leute sind achtlos an einem der virtuosesten Musiker der Welt vorbeigerannt.

Weil sie in diesem Moment keinen Blick und vor allem kein Ohr dafür hatten. Das

Fazit der Washington Post: Ich verpasse unendlich viel, wenn ich nicht achtsam

bin. Ich haste durch mein Leben, ohne wertvolle und kostbare Gelegenheiten zu

erblicken und zu genießen. Die Achtsamkeit geht mir im eingefahrenen

Alltagstrott verloren. Und das gilt nicht nur für grandiose Musik am

Straßenrand, sondern auch für die Spuren Gottes in meinem Leben. Zum Beispiel

als er unsere Familie auf der Autobahn vor einem Massenunfall bewahrt hat: an

unserem Campingwagen platzte ein Reifen. Wir schleuderten. Querstehend

blockierten wir beide Fahrspuren. Gerade in diesem Augenblick zeigte sich auf

der stark befahrenen A 1 eine größere Lücke. So konnten die nachfolgenden Autos

rechtzeitig bremsen und warnen. Oder auch als Gott mir die rettende Konzeptidee

geschenkt hat, mit der wir die Schließung unseres Krankenhauses vermeiden

konnten. Und danach noch ganz andere neue Möglichkeiten der Behandlung

realisiert werden konnten. Vielleicht scheint mir Gott ja oftmals deswegen so

weit weg, weil ich nicht oder zu wenig auf ihn achte. Joshua Bell und seine

Violine – ich möchte sie nicht verpassen. Ich möchte immer wieder ganz bewusst

auf die schönen Klänge in meinem Alltag hören. Sehen, welche Zeichen Gott mir

schickt oder welche Begegnungen. Dass Ihnen dies gelingt, wünsche ich Ihnen für

heute und auch an diesem Wochenende.

Ihr Prädikant Werner Brück aus Remscheid.

Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 13.12.2008.

https://www.sueddeutsche.de/kultur/klassik-in-der-u-bahn-kleingeld-fuer-den-star-1.801038

(zuletzt abgerufen am 01.12.2021)

Redaktion:

Landespfarrerin Petra Schulze

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57050_WDR3520220115Brueck.mp3

  • 15.1.2022
  • Werner Brück
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