Guten Morgen.
Meine Frau liebt Rotkehlchen.
Seit unserem Umzug haben wir eines als regelmäßigen
Gast im Garten.
Und mittlerweile bin ich selbst von dem kleinen
rot-braun-weißen Federball vor unserem Fenster fasziniert. Knapp 18 Gramm wiegt
er bloß, ungefähr so viel wie zehn Gummibärchen.
Doch was für eine Energie! Mit seiner Stimme
übertönt er glatt die Flugzeuge über uns.
Und das schon früh am Morgen, wenn ich selbst noch
kein Wort rausbekomme.
Im Garten kommen wir ihm ziemlich nah – es fliegt
nicht weg. Seine Fluchtdistanz ist äußerst gering. Ich glaube, unser
Rotkehlchen kennt wirklich besonders viele Melodien.
Geräusch:
Rotkehlchen, von Album Stakkato 3, 41 SONGS, 1 STUNDE UND 13
MINUTEN, DEC 04 2015, Track 21 Geräuschaufnahmen (Rotkehlchen).
Mal singt es perlend, mal wehmütig, dann wieder
klingt es fröhlich. Auch Warnrufe hören wir manchmal aus der Hecke.
Unser Rotkehlchen beginnt meist eine Stunde vor
Sonnenaufgang zu singen. Und wenn wir Glück haben, wird es das ganze Jahr über
zu hören sein. Dabei sind es wohl nicht immer die gleichen Tiere, die man hört:
Manche ziehen in den Süden, andere bleiben fest hier, im Winter leben zudem
viele Rotkehlchen aus Skandinavien bei uns. Ich hoffe ja, dass unser Caruso
flug-faul ist und uns erhalten bleibt.
Auch in alten Legenden spielt das Rotkehlchen eine
besondere Rolle.
Es gilt mit seiner roten Brust und seinem frühen
Gesang als Träger und Überbringer der Sonne.
In Großbritannien etwa ist Robin, so sein englischer
Name, fest mit dem Weihnachtsfest verbunden. In anderen Geschichten wird
erzählt: Als Jesus am Kreuz leidet und stirbt, singt ein kleiner brauner Vogel
für ihn und tröstet ihn. Dabei soll das Vögelchen einen Dorn aus Jesu
Dornen-Kranz gezogen haben, wodurch sich die ursprünglich braune Brust seines
Federkleids rot verfärbte.
Wir sind ja gerade in der Osterwoche. Mit allem, was
das Rotkehlchen auszeichnet, ist es für mich ein Symbol für das, was es heißt,
als Christin, als Christ zu leben:
– Den Mut haben, Mitmenschen nahe zu sein – über
alle Grenzen hinweg.
– Andere darin stärken, sich selbst in ihrer eigenen
Schönheit zu zeigen, Größe hin oder her.
– Hoffnungsvoll vom Licht des neuen Tages singen,
auch wenn draußen noch alles dunkel ist.
– Leidenden liebevoll beistehen und sich selbst
dadurch verändern lassen.
– Und ordentlich Alarm schlagen, dort wo Schwächere
in Gefahr sind.
In all dem will ich mich von dem kleinen Vögelchen
mit der roten Brust inspirieren lassen.
Gerade angesichts der letzten Monate brauchen wir
solche Rotkehlchen mehr denn je.
Darum: Sing weiter, kleiner Caruso! Sing von Leiden,
Mut und Schönheit.
Ich wünsche Ihnen einen „rotkehlchenhaften Tag“.
Vielleicht haben Sie ja Glück und begegnen heute
einem dieser hübschen, mutigen Exemplare.
Ihr Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche
im Rheinland.
Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze