Rotkehlchen

Kirche in WDR3 | 23.04.2022 | 00:00 Uhr

Guten Morgen.

Meine Frau liebt Rotkehlchen.

Seit unserem Umzug haben wir eines als regelmäßigen

Gast im Garten.

Und mittlerweile bin ich selbst von dem kleinen

rot-braun-weißen Federball vor unserem Fenster fasziniert. Knapp 18 Gramm wiegt

er bloß, ungefähr so viel wie zehn Gummibärchen.

Doch was für eine Energie! Mit seiner Stimme

übertönt er glatt die Flugzeuge über uns.

Und das schon früh am Morgen, wenn ich selbst noch

kein Wort rausbekomme.

Im Garten kommen wir ihm ziemlich nah – es fliegt

nicht weg. Seine Fluchtdistanz ist äußerst gering. Ich glaube, unser

Rotkehlchen kennt wirklich besonders viele Melodien.

Geräusch:

Rotkehlchen, von Album Stakkato 3, 41 SONGS, 1 STUNDE UND 13

MINUTEN, DEC 04 2015, Track 21 Geräuschaufnahmen (Rotkehlchen).

Mal singt es perlend, mal wehmütig, dann wieder

klingt es fröhlich. Auch Warnrufe hören wir manchmal aus der Hecke.

Unser Rotkehlchen beginnt meist eine Stunde vor

Sonnenaufgang zu singen. Und wenn wir Glück haben, wird es das ganze Jahr über

zu hören sein. Dabei sind es wohl nicht immer die gleichen Tiere, die man hört:

Manche ziehen in den Süden, andere bleiben fest hier, im Winter leben zudem

viele Rotkehlchen aus Skandinavien bei uns. Ich hoffe ja, dass unser Caruso

flug-faul ist und uns erhalten bleibt.

Auch in alten Legenden spielt das Rotkehlchen eine

besondere Rolle.

Es gilt mit seiner roten Brust und seinem frühen

Gesang als Träger und Überbringer der Sonne.

In Großbritannien etwa ist Robin, so sein englischer

Name, fest mit dem Weihnachtsfest verbunden. In anderen Geschichten wird

erzählt: Als Jesus am Kreuz leidet und stirbt, singt ein kleiner brauner Vogel

für ihn und tröstet ihn. Dabei soll das Vögelchen einen Dorn aus Jesu

Dornen-Kranz gezogen haben, wodurch sich die ursprünglich braune Brust seines

Federkleids rot verfärbte.

Wir sind ja gerade in der Osterwoche. Mit allem, was

das Rotkehlchen auszeichnet, ist es für mich ein Symbol für das, was es heißt,

als Christin, als Christ zu leben:

– Den Mut haben, Mitmenschen nahe zu sein – über

alle Grenzen hinweg.

– Andere darin stärken, sich selbst in ihrer eigenen

Schönheit zu zeigen, Größe hin oder her.

– Hoffnungsvoll vom Licht des neuen Tages singen,

auch wenn draußen noch alles dunkel ist.

– Leidenden liebevoll beistehen und sich selbst

dadurch verändern lassen.

– Und ordentlich Alarm schlagen, dort wo Schwächere

in Gefahr sind.

In all dem will ich mich von dem kleinen Vögelchen

mit der roten Brust inspirieren lassen.

Gerade angesichts der letzten Monate brauchen wir

solche Rotkehlchen mehr denn je.

Darum: Sing weiter, kleiner Caruso! Sing von Leiden,

Mut und Schönheit.

Ich wünsche Ihnen einen „rotkehlchenhaften Tag“.

Vielleicht haben Sie ja Glück und begegnen heute

einem dieser hübschen, mutigen Exemplare.

Ihr Thorsten Latzel, Präses der Evangelischen Kirche

im Rheinland.

Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze

  • 23.4.2022
  • Thorsten Latzel
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