Mir müssen Sie gar nichts erzählen

Kirche in WDR2 | 09.04.2022 | 00:00 Uhr

Wir

sitzen uns gegenüber. Sein Gesicht ist fahl, die Haare voll,

aber zerzaust.

Die Augen wach, der Mund spitz. Er hat mich um das Gespräch gebeten. Ich betrachte

ihn intensiv, seine Lebensgeschichte kenne ich nicht. Ich bin

sein Seelsorger. Treffe ihn, weil es mein Job ist. Weil

er mich sprechen will.

Dann:

Ein kurzes Zucken in seinen Mundwinkeln, und schon platzt es auch aus ihm

heraus: „Wissen Sie, ich habe alle Emotionen, die das Leben zu bieten hat,

durchlebt. Alle! Und damit meine ich wirklich alle, auch die schlimmsten, tief

abgründigen. Mir müssen Sie gar nichts erzählen.“

„Will

ich auch gar nicht“, sage ich und lehne mich zurück. Nur keinen Druck machen,

denke ich. Wir sitzen uns weiterhin gegenüber. Wortlos. Fünfzehn Minuten

Schweigen, in denen scheinbar nichts passiert und doch alles. Denn sein Blick

ist in dieser Zeit nicht leer. Ein zornig, wütender Blick wechselt bald zu

einem traurig, schmerzhaften, dann zu einem freundlich, mitfühlenden. Seine

Seele hat Narben, die für Worte zu groß sind. Unsichtbar und tief; abgründig

und höchst gefahrvoll. Besser nicht dran rühren! Sein Kopf ist voll, der Körper

leer. Unendlich müde und gleichzeitig unendlich gespannt.

„Ich

bin vollkommen am Ende, ich kann nicht mehr“- sagen wir oft, wenn der Tag eine

einzige Zumutung ist und Freude sich nirgendwo gezeigt hat. Wenn die freudlosen

Zeiten mehr werden und das sprichwörtlich gewordene „Licht am Ende des Tunnels“

nicht sichtbar wird, was dann?

Für

Ablenkung sorgen, raus gehen, Freunde treffen, Sport machen oder Wellness;

klar! Alles schon probiert, keine Änderung: Und nun? Fünf, sechs Jahre Urlaub

vielleicht?

Meine

Vermutung ist: Davon laufen funktioniert in den meisten Fällen nicht.

Ich

werde immer wieder von mir eingeholt: „Ich bin verstummt und still… und muss

mein Leid in mich fressen“ (Ps.39,3) –klagt jemand,

liegt Gott mit

seinem Schmerz im Ohr. „Wende deine Plage von mir; ich vergehe, weil deine Hand

nach mir greift“ (Ps 39,11) – betet sie oder er weiter. Und

obwohl offensichtlich ist, dass Gottes Hand hier nicht Schutz verspricht, endet

das Gebet mit: „Gott, was soll mich trösten, ich hoffe auf dich…(Ps

39, .8)…

Höre mein Gebet… schweige nicht zu meinen Tränen.“ (Ps

39,13)

„Mir

müssen Sie gar nichts erzählen!“ – erst Recht wenn Worte

nicht ausreichen. Vor Gott können wir schweigen. Es passiert scheinbar nichts,

und doch alles.

Redaktion: Pastorin

Sabine Steinwender-Schnitzius

https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57834_WDR220220409Dahl.mp3

  • 9.4.2022
  • Knut Dahl-Ruddies
  • © Kelly Sikkema on Unsplash
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