Wir
sitzen uns gegenüber. Sein Gesicht ist fahl, die Haare voll,
aber zerzaust.
Die Augen wach, der Mund spitz. Er hat mich um das Gespräch gebeten. Ich betrachte
ihn intensiv, seine Lebensgeschichte kenne ich nicht. Ich bin
sein Seelsorger. Treffe ihn, weil es mein Job ist. Weil
er mich sprechen will.
Dann:
Ein kurzes Zucken in seinen Mundwinkeln, und schon platzt es auch aus ihm
heraus: „Wissen Sie, ich habe alle Emotionen, die das Leben zu bieten hat,
durchlebt. Alle! Und damit meine ich wirklich alle, auch die schlimmsten, tief
abgründigen. Mir müssen Sie gar nichts erzählen.“
„Will
ich auch gar nicht“, sage ich und lehne mich zurück. Nur keinen Druck machen,
denke ich. Wir sitzen uns weiterhin gegenüber. Wortlos. Fünfzehn Minuten
Schweigen, in denen scheinbar nichts passiert und doch alles. Denn sein Blick
ist in dieser Zeit nicht leer. Ein zornig, wütender Blick wechselt bald zu
einem traurig, schmerzhaften, dann zu einem freundlich, mitfühlenden. Seine
Seele hat Narben, die für Worte zu groß sind. Unsichtbar und tief; abgründig
und höchst gefahrvoll. Besser nicht dran rühren! Sein Kopf ist voll, der Körper
leer. Unendlich müde und gleichzeitig unendlich gespannt.
„Ich
bin vollkommen am Ende, ich kann nicht mehr“- sagen wir oft, wenn der Tag eine
einzige Zumutung ist und Freude sich nirgendwo gezeigt hat. Wenn die freudlosen
Zeiten mehr werden und das sprichwörtlich gewordene „Licht am Ende des Tunnels“
nicht sichtbar wird, was dann?
Für
Ablenkung sorgen, raus gehen, Freunde treffen, Sport machen oder Wellness;
klar! Alles schon probiert, keine Änderung: Und nun? Fünf, sechs Jahre Urlaub
vielleicht?
Meine
Vermutung ist: Davon laufen funktioniert in den meisten Fällen nicht.
Ich
werde immer wieder von mir eingeholt: „Ich bin verstummt und still… und muss
mein Leid in mich fressen“ (Ps.39,3) –klagt jemand,
liegt Gott mit
seinem Schmerz im Ohr. „Wende deine Plage von mir; ich vergehe, weil deine Hand
nach mir greift“ (Ps 39,11) – betet sie oder er weiter. Und
obwohl offensichtlich ist, dass Gottes Hand hier nicht Schutz verspricht, endet
das Gebet mit: „Gott, was soll mich trösten, ich hoffe auf dich…(Ps
39, .8)…
Höre mein Gebet… schweige nicht zu meinen Tränen.“ (Ps
39,13)
„Mir
müssen Sie gar nichts erzählen!“ – erst Recht wenn Worte
nicht ausreichen. Vor Gott können wir schweigen. Es passiert scheinbar nichts,
und doch alles.
Redaktion: Pastorin
Sabine Steinwender-Schnitzius
https://www.kirche-im-wdr.de/uploads/tx_krrprogram/57834_WDR220220409Dahl.mp3