Sie ist schwanger. Im fünften Monat. Von
einem verheirateten Mann. Ihrem Chef. Jetzt sitzt sie an einem Brunnen. Am Ende
der Welt. Ein leerer Magen über dem Bauch, der schon erkennbar rund wird. Kein
Gepäck. Kein Geld. Ein Mann spricht sie an. Aber das ist ihr egal.
„Wo kommst Du her?“, fragt er. Warum
soll sie ihm die kalte Schulter zeigen? Stolz kann sie sich nicht mehr leisten.
Das war einmal. „Aus dem Norden,“ sagt sie. „Aus der Stadt?“ – Sie schweigt. –
„Und wo willst Du hin?“ – „Keine Ahnung. Weiter.“ – „Hier geht es nicht mehr
weiter. Vor uns ist nur noch Wüste.“ Wieder schweigen sie. „Ich kann nicht
zurück. Seine Frau hasst mich.“ – „Die Frau des Vaters?“ – „Ja.“
„Dabei hatte sie sich das Ganze
ausgedacht. Das war alles ihre Idee.“ Er hört jetzt nur noch zu. „Sie wollte,
dass ich schwanger werde. Dass ich sein Kind bekomme. Weil es bei ihr nicht
klappt. Sie hat auf ihn eingeredet. Immer wieder: Schlaf doch mit ihr. Mir
macht das nichts. Erst danach habe ich ihren ganzen Plan erfahren: Dass er sich
von mir trennt, wenn das Kind da ist. Dass er bei ihr bleibt. Und dass die
Beiden dann mein Kind zu sich nehmen.
Ich sollte so ´ne Art Leihmutter sein.
Aber ganz legal. Weil ich mich von ihm hab ficken lassen. Toll hat sie sich das
ausgedacht, die alte Hexe! Aber ich habe sie durchschaut. Und da hab´ ich sie
spüren lassen, wer die Überlegene ist. Wer ein Kind kriegen kann und wer
nicht!“
Sie verstummt. Selber erschrocken von
dem Hass, der aus ihr hervorbricht. Die ganzen Szenen treten wieder vor ihre
Augen: Ihr Stolz. Ihr Auftrumpfen. Die Andere, wie sie sich veränderte. Wie sie
ihren Plan immer mehr bereute. Und der Schwangeren dann das Leben zur Hölle
machte. Bis die schließlich gekündigt hat und abgehauen ist.
„Und jetzt?“, fragt der Fremde. Keine
Antwort. Sie blickt ins Leere. Fängt an zu weinen. Er legt ihr vorsichtig die
Hand auf die Schulter. „Geh zurück, Hagar. Entschuldige dich. Versuche, mit den
Beiden zu sprechen. Dann wirst Du Dein Kind behalten können.“ Sie schweigen
gemeinsam. Trinken aus seiner Flasche. Dann sagt er: „Du wirst einen Sohn
bekommen. Nenne ihn Ismael. Das bedeutet: Gott hat auf mich gehört. Dein Junge wird
ein wilder Mensch werden. Rastlos. Aber er wird seinen Weg gehen. Wenn Du für
ihn da bist.“
Immer wieder hat sie später an dieses
Gespräch gedacht. Es ist alles so gekommen, wie der Fremde gesagt hatte. Er war
ein Engel für sie. Ein Engel von Gott, der mich gesehen hat, als ich am Ende
war. Das hat sie sich immer wieder gesagt. Ein Satz, der auch in der Bibel
steht. Im 1. Buch Mose, wo die Geschichte der schwangeren Hagar erzählt wird.
2023 ist dieser Satz die Jahreslosung. Eine großartige Überschrift für das neue
Jahr: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Redaktion: Pastorin Sabine
Steinwender-Schnitzius
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